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Die Grenzboten. Jg. 23, 1864, II. Semester. III. Band.

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sie, die Jünger konnten nach der Katastrophe in Jerusalem nicht mit der Pre¬
digt: Jesus war der Messias, auftreten, wenn sie nicht aus den Schriften die
Ueberzeugung gewonnen hatten und den anderen mittheilen konnten, daß jeder
Zug der Weissagung auf ihn zutreffe. Und nun gingen sie jene Stellen durch,
welche vielleicht schon Jesus, der Auslegungsweise seiner Zeit folgend, als eine
prophetische Hindeutung auf das Leiden und Sterben des Messias gefaßt hatte.
Aber sie fanden noch trostreichere Stellen. Sie erinnerten sich, daß Henoch und
Elias um ihrer Frömmigkeit willen bei Lebzeiten verwandelt wurden. Konnte
nicht eine solche Verwandlung auch mit dem todten Leibe Jesu vorgenommen
werden, so daß er anstatt in die Unterwelt einzugehen, über die Wolken ent¬
rückt wurde, Von wo er sich jederzeit den Seinen zeigen konnte? Und spricht
nicht die berühmte danielische Stelle (die freilich nicht vom Messias handelt) von
einem Kommen des Menschensohnes mit den Wolken des Himmels? Muß nicht
also der Gesalbte Gottes zuvor in die Wolken erhöht sein, bis die Stunde
seines Kommens geschlagen hat? Eine gewagte allegorische Auslegung, weiche
im Voraus zu finden entschlossen war, was sie suchte, konnte noch manches
hierher bezügliche prophetische Wort entdecken. Aber auch manche räthselhafte
Rede Jesu selbst schien jetzt erst in ihrem wahren Sinne verständlich. Hatte
er nicht das Heiligthum seines Leibes gemeint, wenn er vom Abbrechen des
Tempels und seinem baldigen Wiederaufbau redete? Und hörten wir nicht, wie
er selbst verhieß, wiederzukommen zur Vollendung seines Reichs? So erg.ib sich
Eines aus dem Andern- haben wir den Gekreuzigten mit unsern Augen ge¬
sehen, so ist er nicht im Grabe geblieben, sondern in die Höhe entrückt wor¬
den, und in der Höhe muß er inzwischen verweilen, weil das Volk ihn ver¬
worfen hat, und er wird wiederkommen, ausgerüstet mit der Macht des Höch¬
sten, sobald das Volk reif ist zur Ernte, zur Sichtung der Schlechten und der
Guten, damit dann der Herr die letzteren unter sein messianisches Scepter sammle.

Hier stehen wir an dem gemeinsamen Ausgangspunkt sowohl der Sagen,
in welche sich die Christusvisionen verfestigt haben, als auch der Lehre, mit
welcher die erste Christengemeinde aufgetreten ist. Erst als die Gemeinde sich
wieder in Jerusalem gesammelt hatte, konnten jene Sagen zum Abschluß ge¬
langen. Die Flucht der Jünger nach Galiläa wurde jetzt bis auf wenige Spu¬
ren aus dem Gedächtniß verwischt. Schon in Jerusalem, das als die Urge-
Meinde bald auch die Hauptgemeinde war, sollten sie die Gewißheit vom Le¬
ben des Auferstandenen und damit die Bekräftigung ihres Messiasglaubcns er¬
halten haben. Jetzt wurden die einzelnen Visionen zu materiellen Erscheinun¬
gen des leiblichen Jesus ausgebildet, jetzt empfand man das Bedürfniß, einen
bestimmten Anfangspunkt für das neue Leben des Verklärten zu fixiren, jetzt
bildete sich die Sage von der wunderbaren Wiedererweckung seines Leibes, und
endlich, um spätere Christuserscheinungen von denen der Urapostel grundsätzlich


sie, die Jünger konnten nach der Katastrophe in Jerusalem nicht mit der Pre¬
digt: Jesus war der Messias, auftreten, wenn sie nicht aus den Schriften die
Ueberzeugung gewonnen hatten und den anderen mittheilen konnten, daß jeder
Zug der Weissagung auf ihn zutreffe. Und nun gingen sie jene Stellen durch,
welche vielleicht schon Jesus, der Auslegungsweise seiner Zeit folgend, als eine
prophetische Hindeutung auf das Leiden und Sterben des Messias gefaßt hatte.
Aber sie fanden noch trostreichere Stellen. Sie erinnerten sich, daß Henoch und
Elias um ihrer Frömmigkeit willen bei Lebzeiten verwandelt wurden. Konnte
nicht eine solche Verwandlung auch mit dem todten Leibe Jesu vorgenommen
werden, so daß er anstatt in die Unterwelt einzugehen, über die Wolken ent¬
rückt wurde, Von wo er sich jederzeit den Seinen zeigen konnte? Und spricht
nicht die berühmte danielische Stelle (die freilich nicht vom Messias handelt) von
einem Kommen des Menschensohnes mit den Wolken des Himmels? Muß nicht
also der Gesalbte Gottes zuvor in die Wolken erhöht sein, bis die Stunde
seines Kommens geschlagen hat? Eine gewagte allegorische Auslegung, weiche
im Voraus zu finden entschlossen war, was sie suchte, konnte noch manches
hierher bezügliche prophetische Wort entdecken. Aber auch manche räthselhafte
Rede Jesu selbst schien jetzt erst in ihrem wahren Sinne verständlich. Hatte
er nicht das Heiligthum seines Leibes gemeint, wenn er vom Abbrechen des
Tempels und seinem baldigen Wiederaufbau redete? Und hörten wir nicht, wie
er selbst verhieß, wiederzukommen zur Vollendung seines Reichs? So erg.ib sich
Eines aus dem Andern- haben wir den Gekreuzigten mit unsern Augen ge¬
sehen, so ist er nicht im Grabe geblieben, sondern in die Höhe entrückt wor¬
den, und in der Höhe muß er inzwischen verweilen, weil das Volk ihn ver¬
worfen hat, und er wird wiederkommen, ausgerüstet mit der Macht des Höch¬
sten, sobald das Volk reif ist zur Ernte, zur Sichtung der Schlechten und der
Guten, damit dann der Herr die letzteren unter sein messianisches Scepter sammle.

Hier stehen wir an dem gemeinsamen Ausgangspunkt sowohl der Sagen,
in welche sich die Christusvisionen verfestigt haben, als auch der Lehre, mit
welcher die erste Christengemeinde aufgetreten ist. Erst als die Gemeinde sich
wieder in Jerusalem gesammelt hatte, konnten jene Sagen zum Abschluß ge¬
langen. Die Flucht der Jünger nach Galiläa wurde jetzt bis auf wenige Spu¬
ren aus dem Gedächtniß verwischt. Schon in Jerusalem, das als die Urge-
Meinde bald auch die Hauptgemeinde war, sollten sie die Gewißheit vom Le¬
ben des Auferstandenen und damit die Bekräftigung ihres Messiasglaubcns er¬
halten haben. Jetzt wurden die einzelnen Visionen zu materiellen Erscheinun¬
gen des leiblichen Jesus ausgebildet, jetzt empfand man das Bedürfniß, einen
bestimmten Anfangspunkt für das neue Leben des Verklärten zu fixiren, jetzt
bildete sich die Sage von der wunderbaren Wiedererweckung seines Leibes, und
endlich, um spätere Christuserscheinungen von denen der Urapostel grundsätzlich


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[0509] sie, die Jünger konnten nach der Katastrophe in Jerusalem nicht mit der Pre¬ digt: Jesus war der Messias, auftreten, wenn sie nicht aus den Schriften die Ueberzeugung gewonnen hatten und den anderen mittheilen konnten, daß jeder Zug der Weissagung auf ihn zutreffe. Und nun gingen sie jene Stellen durch, welche vielleicht schon Jesus, der Auslegungsweise seiner Zeit folgend, als eine prophetische Hindeutung auf das Leiden und Sterben des Messias gefaßt hatte. Aber sie fanden noch trostreichere Stellen. Sie erinnerten sich, daß Henoch und Elias um ihrer Frömmigkeit willen bei Lebzeiten verwandelt wurden. Konnte nicht eine solche Verwandlung auch mit dem todten Leibe Jesu vorgenommen werden, so daß er anstatt in die Unterwelt einzugehen, über die Wolken ent¬ rückt wurde, Von wo er sich jederzeit den Seinen zeigen konnte? Und spricht nicht die berühmte danielische Stelle (die freilich nicht vom Messias handelt) von einem Kommen des Menschensohnes mit den Wolken des Himmels? Muß nicht also der Gesalbte Gottes zuvor in die Wolken erhöht sein, bis die Stunde seines Kommens geschlagen hat? Eine gewagte allegorische Auslegung, weiche im Voraus zu finden entschlossen war, was sie suchte, konnte noch manches hierher bezügliche prophetische Wort entdecken. Aber auch manche räthselhafte Rede Jesu selbst schien jetzt erst in ihrem wahren Sinne verständlich. Hatte er nicht das Heiligthum seines Leibes gemeint, wenn er vom Abbrechen des Tempels und seinem baldigen Wiederaufbau redete? Und hörten wir nicht, wie er selbst verhieß, wiederzukommen zur Vollendung seines Reichs? So erg.ib sich Eines aus dem Andern- haben wir den Gekreuzigten mit unsern Augen ge¬ sehen, so ist er nicht im Grabe geblieben, sondern in die Höhe entrückt wor¬ den, und in der Höhe muß er inzwischen verweilen, weil das Volk ihn ver¬ worfen hat, und er wird wiederkommen, ausgerüstet mit der Macht des Höch¬ sten, sobald das Volk reif ist zur Ernte, zur Sichtung der Schlechten und der Guten, damit dann der Herr die letzteren unter sein messianisches Scepter sammle. Hier stehen wir an dem gemeinsamen Ausgangspunkt sowohl der Sagen, in welche sich die Christusvisionen verfestigt haben, als auch der Lehre, mit welcher die erste Christengemeinde aufgetreten ist. Erst als die Gemeinde sich wieder in Jerusalem gesammelt hatte, konnten jene Sagen zum Abschluß ge¬ langen. Die Flucht der Jünger nach Galiläa wurde jetzt bis auf wenige Spu¬ ren aus dem Gedächtniß verwischt. Schon in Jerusalem, das als die Urge- Meinde bald auch die Hauptgemeinde war, sollten sie die Gewißheit vom Le¬ ben des Auferstandenen und damit die Bekräftigung ihres Messiasglaubcns er¬ halten haben. Jetzt wurden die einzelnen Visionen zu materiellen Erscheinun¬ gen des leiblichen Jesus ausgebildet, jetzt empfand man das Bedürfniß, einen bestimmten Anfangspunkt für das neue Leben des Verklärten zu fixiren, jetzt bildete sich die Sage von der wunderbaren Wiedererweckung seines Leibes, und endlich, um spätere Christuserscheinungen von denen der Urapostel grundsätzlich

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 23, 1864, II. Semester. III. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341799_189094/509>, abgerufen am 28.09.2024.