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Die Grenzboten. Jg. 23, 1864, II. Semester. III. Band.

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Ob der Antrieb zur treuerer Wiedergabe der Natur bei Cimabue nur dem
Drange des Zeitalters entsprang, welches sich aus Barbarei und Verkommen¬
heit zu freiem Leben und Schaffen herausarbeitete, oder ob ihm durch ein be¬
stimmtes Erlebniß die Augen geöffnet wurden, so daß er die Ursache des tiefen
Verfalls der zeitgenössischen Kunst in der durch Alter und Gewohnheit geheilig¬
ten Tyrannei unwürdiger Vorbilder erkannte, ist eine Frage, die vielleicht nie¬
mals zu ausdrücklicher Lösung kommt. Sie hat für uns auch die Wichtigkeit
nicht mehr, die man ihr beilegte, wenn man sie früher aufwarf, ja die ganze
Art der Fragstellung, die bei Vasari eine große Rolle spielt, hat ihr sehr Ver¬
fängliches an sich. Insbesondre in diesen, Falle, wo die Geschichte gänzlich
schweigen zu wollen scheint, hat sie, wie wir sahen, zu Hypothesen geführt,
welche nur den Charakter unhistorischer Hilfsanekdoten tragen. Der Genius
des Einzelnen und dasjenige, was man den Genius des Zeitalters nennt, be¬
gegnen und begatten sich in solchen bahnbrechenden Geistern auf so mystische
Weise, daß es schwer, ja unmöglich ist, die Grenzen des Urtheiles genau ab¬
zustecken, den sie an den neuen Erzeugnissen haben. Am schwersten aber ist es
da, wo wir die Spuren der Eltern nicht mehr aus dem lauteren Antlitz der
Kinder dieser Geistesche herauszulesen vermögen, sondern darauf angewiesen
sind, aus vereinzelten und übertünchten Resten die ursprüngliche Gestalt zu ent¬
ziffern. So ist es hier. Denn Cimabues Kunst ist uns vielmehr in einer gro¬
ßen Erinnerung als in einer Reihe bestimmter Leistungen überliefert. Und
Cimabue. so wird uns erzählt, war nicht blos von der Ueberzeugung durch¬
drungen, daß eine Reformation in der Kunst nothlhat, sondern er fühlte sich
mit stark zur Schau tretenden Stolze als der erste Reformator. Dieses hohe
Bewußtsein fand lautes Echo in der Bewunderung der Zeitgenossen. Als er
seine kolossale Viadonna für die Maria-Novella-Kirche vollendet hatte, wurde
das Bild in festlichem Aufzuge, den viel Volks geleitete, Trompeter voran, an
seinen Bestimmungsort getragen. Spätere Berichterstatter haben die Uebertrei¬
bung nicht gescheut, daß der Stadttheil, in welchem der Künstler wohnte, den
Namen Borg" Allegri von der bei jenem Anlaß kund gewordenen Freude der
Stadt erhalten habe. Dagegen wird das Factum aufrecht erhalten, daß Karl
Von Anjou in Begleitung zahlreichen Hofstaates den Meister durch einen ceremo-
niellen Besuch im Atelier feierte.

Aus allem geht so viel hervor, daß die Zeitgenossenschaft empfand, es sei
ein großer unübersetzbarer Anfang gemacht worden. Ist es uns nicht vergönnt,
die Documente dieser Kunst vergleichend zu mustern, so dürfen wir die Unbill
des Schicksals nicht allzuhart verklagen, welche sie uns vorenthalten hat. Die
Natur ist hier nicht so ungerecht als es scheinen kann. In dem. was uns von
Cimabue erhalten ist, wird das ruhigere Auge des heutigen Beobachters rück¬
sichtlich der äußeren Formgebung nicht eben sehr auffällige Fortschritte von der


Ob der Antrieb zur treuerer Wiedergabe der Natur bei Cimabue nur dem
Drange des Zeitalters entsprang, welches sich aus Barbarei und Verkommen¬
heit zu freiem Leben und Schaffen herausarbeitete, oder ob ihm durch ein be¬
stimmtes Erlebniß die Augen geöffnet wurden, so daß er die Ursache des tiefen
Verfalls der zeitgenössischen Kunst in der durch Alter und Gewohnheit geheilig¬
ten Tyrannei unwürdiger Vorbilder erkannte, ist eine Frage, die vielleicht nie¬
mals zu ausdrücklicher Lösung kommt. Sie hat für uns auch die Wichtigkeit
nicht mehr, die man ihr beilegte, wenn man sie früher aufwarf, ja die ganze
Art der Fragstellung, die bei Vasari eine große Rolle spielt, hat ihr sehr Ver¬
fängliches an sich. Insbesondre in diesen, Falle, wo die Geschichte gänzlich
schweigen zu wollen scheint, hat sie, wie wir sahen, zu Hypothesen geführt,
welche nur den Charakter unhistorischer Hilfsanekdoten tragen. Der Genius
des Einzelnen und dasjenige, was man den Genius des Zeitalters nennt, be¬
gegnen und begatten sich in solchen bahnbrechenden Geistern auf so mystische
Weise, daß es schwer, ja unmöglich ist, die Grenzen des Urtheiles genau ab¬
zustecken, den sie an den neuen Erzeugnissen haben. Am schwersten aber ist es
da, wo wir die Spuren der Eltern nicht mehr aus dem lauteren Antlitz der
Kinder dieser Geistesche herauszulesen vermögen, sondern darauf angewiesen
sind, aus vereinzelten und übertünchten Resten die ursprüngliche Gestalt zu ent¬
ziffern. So ist es hier. Denn Cimabues Kunst ist uns vielmehr in einer gro¬
ßen Erinnerung als in einer Reihe bestimmter Leistungen überliefert. Und
Cimabue. so wird uns erzählt, war nicht blos von der Ueberzeugung durch¬
drungen, daß eine Reformation in der Kunst nothlhat, sondern er fühlte sich
mit stark zur Schau tretenden Stolze als der erste Reformator. Dieses hohe
Bewußtsein fand lautes Echo in der Bewunderung der Zeitgenossen. Als er
seine kolossale Viadonna für die Maria-Novella-Kirche vollendet hatte, wurde
das Bild in festlichem Aufzuge, den viel Volks geleitete, Trompeter voran, an
seinen Bestimmungsort getragen. Spätere Berichterstatter haben die Uebertrei¬
bung nicht gescheut, daß der Stadttheil, in welchem der Künstler wohnte, den
Namen Borg» Allegri von der bei jenem Anlaß kund gewordenen Freude der
Stadt erhalten habe. Dagegen wird das Factum aufrecht erhalten, daß Karl
Von Anjou in Begleitung zahlreichen Hofstaates den Meister durch einen ceremo-
niellen Besuch im Atelier feierte.

Aus allem geht so viel hervor, daß die Zeitgenossenschaft empfand, es sei
ein großer unübersetzbarer Anfang gemacht worden. Ist es uns nicht vergönnt,
die Documente dieser Kunst vergleichend zu mustern, so dürfen wir die Unbill
des Schicksals nicht allzuhart verklagen, welche sie uns vorenthalten hat. Die
Natur ist hier nicht so ungerecht als es scheinen kann. In dem. was uns von
Cimabue erhalten ist, wird das ruhigere Auge des heutigen Beobachters rück¬
sichtlich der äußeren Formgebung nicht eben sehr auffällige Fortschritte von der


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[0502] Ob der Antrieb zur treuerer Wiedergabe der Natur bei Cimabue nur dem Drange des Zeitalters entsprang, welches sich aus Barbarei und Verkommen¬ heit zu freiem Leben und Schaffen herausarbeitete, oder ob ihm durch ein be¬ stimmtes Erlebniß die Augen geöffnet wurden, so daß er die Ursache des tiefen Verfalls der zeitgenössischen Kunst in der durch Alter und Gewohnheit geheilig¬ ten Tyrannei unwürdiger Vorbilder erkannte, ist eine Frage, die vielleicht nie¬ mals zu ausdrücklicher Lösung kommt. Sie hat für uns auch die Wichtigkeit nicht mehr, die man ihr beilegte, wenn man sie früher aufwarf, ja die ganze Art der Fragstellung, die bei Vasari eine große Rolle spielt, hat ihr sehr Ver¬ fängliches an sich. Insbesondre in diesen, Falle, wo die Geschichte gänzlich schweigen zu wollen scheint, hat sie, wie wir sahen, zu Hypothesen geführt, welche nur den Charakter unhistorischer Hilfsanekdoten tragen. Der Genius des Einzelnen und dasjenige, was man den Genius des Zeitalters nennt, be¬ gegnen und begatten sich in solchen bahnbrechenden Geistern auf so mystische Weise, daß es schwer, ja unmöglich ist, die Grenzen des Urtheiles genau ab¬ zustecken, den sie an den neuen Erzeugnissen haben. Am schwersten aber ist es da, wo wir die Spuren der Eltern nicht mehr aus dem lauteren Antlitz der Kinder dieser Geistesche herauszulesen vermögen, sondern darauf angewiesen sind, aus vereinzelten und übertünchten Resten die ursprüngliche Gestalt zu ent¬ ziffern. So ist es hier. Denn Cimabues Kunst ist uns vielmehr in einer gro¬ ßen Erinnerung als in einer Reihe bestimmter Leistungen überliefert. Und Cimabue. so wird uns erzählt, war nicht blos von der Ueberzeugung durch¬ drungen, daß eine Reformation in der Kunst nothlhat, sondern er fühlte sich mit stark zur Schau tretenden Stolze als der erste Reformator. Dieses hohe Bewußtsein fand lautes Echo in der Bewunderung der Zeitgenossen. Als er seine kolossale Viadonna für die Maria-Novella-Kirche vollendet hatte, wurde das Bild in festlichem Aufzuge, den viel Volks geleitete, Trompeter voran, an seinen Bestimmungsort getragen. Spätere Berichterstatter haben die Uebertrei¬ bung nicht gescheut, daß der Stadttheil, in welchem der Künstler wohnte, den Namen Borg» Allegri von der bei jenem Anlaß kund gewordenen Freude der Stadt erhalten habe. Dagegen wird das Factum aufrecht erhalten, daß Karl Von Anjou in Begleitung zahlreichen Hofstaates den Meister durch einen ceremo- niellen Besuch im Atelier feierte. Aus allem geht so viel hervor, daß die Zeitgenossenschaft empfand, es sei ein großer unübersetzbarer Anfang gemacht worden. Ist es uns nicht vergönnt, die Documente dieser Kunst vergleichend zu mustern, so dürfen wir die Unbill des Schicksals nicht allzuhart verklagen, welche sie uns vorenthalten hat. Die Natur ist hier nicht so ungerecht als es scheinen kann. In dem. was uns von Cimabue erhalten ist, wird das ruhigere Auge des heutigen Beobachters rück¬ sichtlich der äußeren Formgebung nicht eben sehr auffällige Fortschritte von der

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 23, 1864, II. Semester. III. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341799_189094/502>, abgerufen am 28.09.2024.