Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Die Grenzboten. Jg. 23, 1864, II. Semester. III. Band.

Bild:
<< vorherige Seite

verlässigste Quelle bleibt, für Jesus ein höchstes Maß geistiger Freiheit und
bewußter Überlegenheit zu gewinnen, und es sind die scharfsinnigsten Unter¬
suchungen, durch welche er zu diesem Resultat gelangt. Wie fein weist er z. B.
nach, daß wir in dem angeblich falschen Zeugniß, Jesus habe gesagt: er wolle
den Tempel abbrechen und binnen dreier Tage wieder bauen, die Spur eines
wirklichen historischen Worts haben, das auf die Abschaffung des Tempelcultus
und die Herstellung eines neuen geistigen Gottesdienstes ging! Wie fein weist
er aus dem Titel Menschensohn, den Jesus als Messias annahm, während er
andere Bezeichnungen der Messiaswürde von sich abzulehnen Pflegte, nach, daß
Jesus die Ueberzeugung, er sei der Messias, erst allmälig in den Seinigen
entstehen lassen und eben damit alle politisch-ncNionalen Hoffnungen aus ihrem
Messiasglauben entfernen wollte. Wiederholt kommt Strauß darauf zurück,
daß der Ausspruch des johanneischen Christus von der geistigen an keinen Ort
mehr gebundenen Anbetung Gottes, wenn auch nicht geschichtlich, so doch dem
wirklichen Sinn und Standpunkt Jesu näher stehe, als der makkabäischc von
dem unvergänglichen Gesetzesbuchstaben. Andere Forscher, deren Ausgangspunkt
und Methode verschieden ist, stimmen damit überein. Noch bestimmter als von
Strauß wird es von Keim behauptet, daß Jesus an ein Reich Gottes durch
die Längen und Breiten der Menschheit glaubte, daß ihm aus der gröberen
Form des davidischen Messiasreichs auf allen Punkten die hehre verklärte Ge¬
stalt des menschheitlicher Gottesreiches stieg, und daß er, der Vollender des
Judenthums, das Heidenthum in der Weltgeschichte geschlagen und die Reli¬
gion des reinen Geistes und der Humanität heraufgeführt hat. Und ebenso
zieht sich durch das ganze Buch von Schenkel der Gedanke, daß Jesus der
Stifter einer rein geistigen idealen Gemeinschaft war, für welche alle nationa¬
len Schranken durchbrochen, aller äußerliche Tempeldienst aufgehoben ist.

Gewiß gehört es nun zu den Triumphen der historischen Kritik, daß sie --
nach Beseitigung aller mythischen und dogmatischen Verdunklungen -- die Ver¬
kündigung der höchsten idealen Gedanken, welche die Menschheit für alle Zeiten
nicht überschreiten kann, übereinstimmend dem Menschen Jesus zuerkennen
kann. Dem Geschwätz, das man seit dem ersten Leben Jesu von Strauß so
oft zu hören bekam, daß es der Kritik nur um die Herabwürdigung der Person
und des Werks Jesu zu thun sei, ist in den Augen der Urtheilsfähigen damit
die würdigste Antwort ertheilt. Allein für die historische Betrachtung bleiben
nun doch an diesem Punkt noch einige ungelöste Bedenken zurück.

Fürs Erste erhebt sich die Schwierigkeit, daß je höher das geistige Be¬
wußtsein und der Inhalt der Lehre Jesu gedacht wird, um so unbegreiflicher der
Rückfall ist, welchen wir in dem Bewußtsein der ältesten Gemeinde unmittelbar
nach dem Hingang des Meisters wahrnehmen. In der That die tiefste Kluft trennt
den Meister, der die Religion des Geistes und der Humanität verkündigte, und


verlässigste Quelle bleibt, für Jesus ein höchstes Maß geistiger Freiheit und
bewußter Überlegenheit zu gewinnen, und es sind die scharfsinnigsten Unter¬
suchungen, durch welche er zu diesem Resultat gelangt. Wie fein weist er z. B.
nach, daß wir in dem angeblich falschen Zeugniß, Jesus habe gesagt: er wolle
den Tempel abbrechen und binnen dreier Tage wieder bauen, die Spur eines
wirklichen historischen Worts haben, das auf die Abschaffung des Tempelcultus
und die Herstellung eines neuen geistigen Gottesdienstes ging! Wie fein weist
er aus dem Titel Menschensohn, den Jesus als Messias annahm, während er
andere Bezeichnungen der Messiaswürde von sich abzulehnen Pflegte, nach, daß
Jesus die Ueberzeugung, er sei der Messias, erst allmälig in den Seinigen
entstehen lassen und eben damit alle politisch-ncNionalen Hoffnungen aus ihrem
Messiasglauben entfernen wollte. Wiederholt kommt Strauß darauf zurück,
daß der Ausspruch des johanneischen Christus von der geistigen an keinen Ort
mehr gebundenen Anbetung Gottes, wenn auch nicht geschichtlich, so doch dem
wirklichen Sinn und Standpunkt Jesu näher stehe, als der makkabäischc von
dem unvergänglichen Gesetzesbuchstaben. Andere Forscher, deren Ausgangspunkt
und Methode verschieden ist, stimmen damit überein. Noch bestimmter als von
Strauß wird es von Keim behauptet, daß Jesus an ein Reich Gottes durch
die Längen und Breiten der Menschheit glaubte, daß ihm aus der gröberen
Form des davidischen Messiasreichs auf allen Punkten die hehre verklärte Ge¬
stalt des menschheitlicher Gottesreiches stieg, und daß er, der Vollender des
Judenthums, das Heidenthum in der Weltgeschichte geschlagen und die Reli¬
gion des reinen Geistes und der Humanität heraufgeführt hat. Und ebenso
zieht sich durch das ganze Buch von Schenkel der Gedanke, daß Jesus der
Stifter einer rein geistigen idealen Gemeinschaft war, für welche alle nationa¬
len Schranken durchbrochen, aller äußerliche Tempeldienst aufgehoben ist.

Gewiß gehört es nun zu den Triumphen der historischen Kritik, daß sie —
nach Beseitigung aller mythischen und dogmatischen Verdunklungen — die Ver¬
kündigung der höchsten idealen Gedanken, welche die Menschheit für alle Zeiten
nicht überschreiten kann, übereinstimmend dem Menschen Jesus zuerkennen
kann. Dem Geschwätz, das man seit dem ersten Leben Jesu von Strauß so
oft zu hören bekam, daß es der Kritik nur um die Herabwürdigung der Person
und des Werks Jesu zu thun sei, ist in den Augen der Urtheilsfähigen damit
die würdigste Antwort ertheilt. Allein für die historische Betrachtung bleiben
nun doch an diesem Punkt noch einige ungelöste Bedenken zurück.

Fürs Erste erhebt sich die Schwierigkeit, daß je höher das geistige Be¬
wußtsein und der Inhalt der Lehre Jesu gedacht wird, um so unbegreiflicher der
Rückfall ist, welchen wir in dem Bewußtsein der ältesten Gemeinde unmittelbar
nach dem Hingang des Meisters wahrnehmen. In der That die tiefste Kluft trennt
den Meister, der die Religion des Geistes und der Humanität verkündigte, und


<TEI>
  <text>
    <body>
      <div>
        <div n="1">
          <pb facs="#f0463" corresp="http://brema.suub.uni-bremen.de/grenzboten/periodical/pageview/189558"/>
          <p xml:id="ID_1764" prev="#ID_1763"> verlässigste Quelle bleibt, für Jesus ein höchstes Maß geistiger Freiheit und<lb/>
bewußter Überlegenheit zu gewinnen, und es sind die scharfsinnigsten Unter¬<lb/>
suchungen, durch welche er zu diesem Resultat gelangt. Wie fein weist er z. B.<lb/>
nach, daß wir in dem angeblich falschen Zeugniß, Jesus habe gesagt: er wolle<lb/>
den Tempel abbrechen und binnen dreier Tage wieder bauen, die Spur eines<lb/>
wirklichen historischen Worts haben, das auf die Abschaffung des Tempelcultus<lb/>
und die Herstellung eines neuen geistigen Gottesdienstes ging! Wie fein weist<lb/>
er aus dem Titel Menschensohn, den Jesus als Messias annahm, während er<lb/>
andere Bezeichnungen der Messiaswürde von sich abzulehnen Pflegte, nach, daß<lb/>
Jesus die Ueberzeugung, er sei der Messias, erst allmälig in den Seinigen<lb/>
entstehen lassen und eben damit alle politisch-ncNionalen Hoffnungen aus ihrem<lb/>
Messiasglauben entfernen wollte. Wiederholt kommt Strauß darauf zurück,<lb/>
daß der Ausspruch des johanneischen Christus von der geistigen an keinen Ort<lb/>
mehr gebundenen Anbetung Gottes, wenn auch nicht geschichtlich, so doch dem<lb/>
wirklichen Sinn und Standpunkt Jesu näher stehe, als der makkabäischc von<lb/>
dem unvergänglichen Gesetzesbuchstaben. Andere Forscher, deren Ausgangspunkt<lb/>
und Methode verschieden ist, stimmen damit überein. Noch bestimmter als von<lb/>
Strauß wird es von Keim behauptet, daß Jesus an ein Reich Gottes durch<lb/>
die Längen und Breiten der Menschheit glaubte, daß ihm aus der gröberen<lb/>
Form des davidischen Messiasreichs auf allen Punkten die hehre verklärte Ge¬<lb/>
stalt des menschheitlicher Gottesreiches stieg, und daß er, der Vollender des<lb/>
Judenthums, das Heidenthum in der Weltgeschichte geschlagen und die Reli¬<lb/>
gion des reinen Geistes und der Humanität heraufgeführt hat. Und ebenso<lb/>
zieht sich durch das ganze Buch von Schenkel der Gedanke, daß Jesus der<lb/>
Stifter einer rein geistigen idealen Gemeinschaft war, für welche alle nationa¬<lb/>
len Schranken durchbrochen, aller äußerliche Tempeldienst aufgehoben ist.</p><lb/>
          <p xml:id="ID_1765"> Gewiß gehört es nun zu den Triumphen der historischen Kritik, daß sie &#x2014;<lb/>
nach Beseitigung aller mythischen und dogmatischen Verdunklungen &#x2014; die Ver¬<lb/>
kündigung der höchsten idealen Gedanken, welche die Menschheit für alle Zeiten<lb/>
nicht überschreiten kann, übereinstimmend dem Menschen Jesus zuerkennen<lb/>
kann. Dem Geschwätz, das man seit dem ersten Leben Jesu von Strauß so<lb/>
oft zu hören bekam, daß es der Kritik nur um die Herabwürdigung der Person<lb/>
und des Werks Jesu zu thun sei, ist in den Augen der Urtheilsfähigen damit<lb/>
die würdigste Antwort ertheilt. Allein für die historische Betrachtung bleiben<lb/>
nun doch an diesem Punkt noch einige ungelöste Bedenken zurück.</p><lb/>
          <p xml:id="ID_1766" next="#ID_1767"> Fürs Erste erhebt sich die Schwierigkeit, daß je höher das geistige Be¬<lb/>
wußtsein und der Inhalt der Lehre Jesu gedacht wird, um so unbegreiflicher der<lb/>
Rückfall ist, welchen wir in dem Bewußtsein der ältesten Gemeinde unmittelbar<lb/>
nach dem Hingang des Meisters wahrnehmen. In der That die tiefste Kluft trennt<lb/>
den Meister, der die Religion des Geistes und der Humanität verkündigte, und</p><lb/>
        </div>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[0463] verlässigste Quelle bleibt, für Jesus ein höchstes Maß geistiger Freiheit und bewußter Überlegenheit zu gewinnen, und es sind die scharfsinnigsten Unter¬ suchungen, durch welche er zu diesem Resultat gelangt. Wie fein weist er z. B. nach, daß wir in dem angeblich falschen Zeugniß, Jesus habe gesagt: er wolle den Tempel abbrechen und binnen dreier Tage wieder bauen, die Spur eines wirklichen historischen Worts haben, das auf die Abschaffung des Tempelcultus und die Herstellung eines neuen geistigen Gottesdienstes ging! Wie fein weist er aus dem Titel Menschensohn, den Jesus als Messias annahm, während er andere Bezeichnungen der Messiaswürde von sich abzulehnen Pflegte, nach, daß Jesus die Ueberzeugung, er sei der Messias, erst allmälig in den Seinigen entstehen lassen und eben damit alle politisch-ncNionalen Hoffnungen aus ihrem Messiasglauben entfernen wollte. Wiederholt kommt Strauß darauf zurück, daß der Ausspruch des johanneischen Christus von der geistigen an keinen Ort mehr gebundenen Anbetung Gottes, wenn auch nicht geschichtlich, so doch dem wirklichen Sinn und Standpunkt Jesu näher stehe, als der makkabäischc von dem unvergänglichen Gesetzesbuchstaben. Andere Forscher, deren Ausgangspunkt und Methode verschieden ist, stimmen damit überein. Noch bestimmter als von Strauß wird es von Keim behauptet, daß Jesus an ein Reich Gottes durch die Längen und Breiten der Menschheit glaubte, daß ihm aus der gröberen Form des davidischen Messiasreichs auf allen Punkten die hehre verklärte Ge¬ stalt des menschheitlicher Gottesreiches stieg, und daß er, der Vollender des Judenthums, das Heidenthum in der Weltgeschichte geschlagen und die Reli¬ gion des reinen Geistes und der Humanität heraufgeführt hat. Und ebenso zieht sich durch das ganze Buch von Schenkel der Gedanke, daß Jesus der Stifter einer rein geistigen idealen Gemeinschaft war, für welche alle nationa¬ len Schranken durchbrochen, aller äußerliche Tempeldienst aufgehoben ist. Gewiß gehört es nun zu den Triumphen der historischen Kritik, daß sie — nach Beseitigung aller mythischen und dogmatischen Verdunklungen — die Ver¬ kündigung der höchsten idealen Gedanken, welche die Menschheit für alle Zeiten nicht überschreiten kann, übereinstimmend dem Menschen Jesus zuerkennen kann. Dem Geschwätz, das man seit dem ersten Leben Jesu von Strauß so oft zu hören bekam, daß es der Kritik nur um die Herabwürdigung der Person und des Werks Jesu zu thun sei, ist in den Augen der Urtheilsfähigen damit die würdigste Antwort ertheilt. Allein für die historische Betrachtung bleiben nun doch an diesem Punkt noch einige ungelöste Bedenken zurück. Fürs Erste erhebt sich die Schwierigkeit, daß je höher das geistige Be¬ wußtsein und der Inhalt der Lehre Jesu gedacht wird, um so unbegreiflicher der Rückfall ist, welchen wir in dem Bewußtsein der ältesten Gemeinde unmittelbar nach dem Hingang des Meisters wahrnehmen. In der That die tiefste Kluft trennt den Meister, der die Religion des Geistes und der Humanität verkündigte, und

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde im Rahmen des Moduls DTA-Erweiterungen (DTAE) digitalisiert. Weitere Informationen …

Staats- und Universitätsbibliothek (SuUB) Bremen: Bereitstellung der Texttranskription.
Kay-Michael Würzner: Bearbeitung der digitalen Edition.

Weitere Informationen:

Verfahren der Texterfassung: OCR mit Nachkorrektur.

Bogensignaturen: gekennzeichnet;Druckfehler: ignoriert;fremdsprachliches Material: nicht gekennzeichnet;Geminations-/Abkürzungsstriche: wie Vorlage;Hervorhebungen (Antiqua, Sperrschrift, Kursive etc.): nicht ausgezeichnet;i/j in Fraktur: wie Vorlage;I/J in Fraktur: wie Vorlage;Kolumnentitel: gekennzeichnet;Kustoden: gekennzeichnet;langes s (ſ): als s transkribiert;Normalisierungen: stillschweigend;rundes r (&#xa75b;): als r/et transkribiert;Seitenumbrüche markiert: ja;Silbentrennung: wie Vorlage;u/v bzw. U/V: wie Vorlage;Vokale mit übergest. e: als ä/ö/ü transkribiert;Vollständigkeit: vollständig erfasst;Zeichensetzung: wie Vorlage;Zeilenumbrüche markiert: ja;

Nachkorrektur erfolgte automatisch.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341799_189094
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341799_189094/463
Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 23, 1864, II. Semester. III. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341799_189094/463>, abgerufen am 28.09.2024.