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Die Grenzboten. Jg. 23, 1864, II. Semester. III. Band.

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ters annahm, so konnte das nur in dem Sinne geschehen, daß die Hoffnungen,
welche das ^oll an diesen Namen knüpfte, aller nationalen und sinnlichen
Schranken entkleidet und durchaus ins Geistige gewendet wurden. So scheint
es. In Wahrheit aber gebieten die über Jesus aufbewahrten positiven Nach'
richten, mit aller Vorsicht weiterzugehen und sorgfältig jeden Ausspruch, jede
Handlung darauf anzusehen, ob sie jenen Schluß wirklich erlauben.

Es fehlt nämlich allerdings nicht an Aeußerungen Jesu, welche dafür spre¬
chen, daß er sich der Neuheit seines Princips und der Unverträglichkeit dessel¬
ben mit dem jüdischen Gesetzeswesen vollständig bewußt war. Aber wir stoßen
auch wieder auf Aussprüche wie den: es sei leichter, daß Himmel und Erde ver¬
gehen, als daß ein Buchstabe des Gesetzes falle. Wir finden ferner in Bezug
auf die Nichtisraeliten bald ein Verbot an die Jünger, sich an die Heiden oder
Samantaner zu wenden, bald die ausdrückliche Weisung, beiden das Evange¬
lium zu bringen; bald die Weigerung, einem heidnischen Weib zu helfen, bald
eine besondere Geneigtheit, die Heiden vor den Juden zu bevorzugen. Wir
finden weiter über die Art des von Jesus gestifteten Reichs die verschieden¬
artigsten Bestimmungen, so daß es einmal als ein bereits gegenwärtiges, allmä-
liger geistiger Entwicklung anheimgegebenes erscheint, dann aber wieder als ein
durch eine hereinbrechende Weltkatastrophe plötzlich auf die Erde herabkommen¬
des vorgestellt wird, und so finden sich auch in dem Messiasbildc, wenn wir
die eigenen Ansprüche Jesu zu Rathe ziehen, Züge, welche mit der rein geisti¬
gen Umbildung dieser Idee wenig Harmoniren wollen; z. B. wenn Jesus sagt,
unter dem Wehklagen aller Völker der Erde werde man des Menschen Sohn
auf den Wolken kommen sehen mit großer Macht und Herrlichkeit, er werde
seine Engel aussenden mit einer stark schallenden Trompete, um von allen vier
Winden her seine Auserwählten zu versammeln, hieraus sich auf einen Thron
setzen, um alle Menschen zu richten, die einen ins ewige Feuer, die andern
ins ewige Leben eingehen zu lassen; und zwar werde die jetzige Generation
nicht vergehen, bis dies alles geschehen werde. Solche Phantasiebilder sehen doch
nicht gerade aus wie eine vollständige Abstreifung aller äußerlich theokratischen
Bestandtheile des Messiasglaubens!

Wie sind nun alle diese Widersprüche zu lösen? Hier stehen wir offenbar
vor dem schwierigsten Problem für den Biographen Jesu.

Man hat geglaubt, sie am leichtesten dadurch zu losen, daß man eine all-
mälige Entwicklung in dem religiösen Ideal Jesu annahm. Jesus hätte, nach¬
dem er im Anfange das neue Princip in seiner Reinheit ausgesprochen, doch in
der Praxis anfänglich sich noch enger an das jüdische Wesen angeschlossen, dessen
geistige Reformation angestrebt, nach und nach aber theils durch die treibende
Consequenz seines Princips, theils durch den Widerstand, den er gerade bei den
Juden fand, sei er weiter geführt und, des universalen Charakters seiner Lehre


ters annahm, so konnte das nur in dem Sinne geschehen, daß die Hoffnungen,
welche das ^oll an diesen Namen knüpfte, aller nationalen und sinnlichen
Schranken entkleidet und durchaus ins Geistige gewendet wurden. So scheint
es. In Wahrheit aber gebieten die über Jesus aufbewahrten positiven Nach'
richten, mit aller Vorsicht weiterzugehen und sorgfältig jeden Ausspruch, jede
Handlung darauf anzusehen, ob sie jenen Schluß wirklich erlauben.

Es fehlt nämlich allerdings nicht an Aeußerungen Jesu, welche dafür spre¬
chen, daß er sich der Neuheit seines Princips und der Unverträglichkeit dessel¬
ben mit dem jüdischen Gesetzeswesen vollständig bewußt war. Aber wir stoßen
auch wieder auf Aussprüche wie den: es sei leichter, daß Himmel und Erde ver¬
gehen, als daß ein Buchstabe des Gesetzes falle. Wir finden ferner in Bezug
auf die Nichtisraeliten bald ein Verbot an die Jünger, sich an die Heiden oder
Samantaner zu wenden, bald die ausdrückliche Weisung, beiden das Evange¬
lium zu bringen; bald die Weigerung, einem heidnischen Weib zu helfen, bald
eine besondere Geneigtheit, die Heiden vor den Juden zu bevorzugen. Wir
finden weiter über die Art des von Jesus gestifteten Reichs die verschieden¬
artigsten Bestimmungen, so daß es einmal als ein bereits gegenwärtiges, allmä-
liger geistiger Entwicklung anheimgegebenes erscheint, dann aber wieder als ein
durch eine hereinbrechende Weltkatastrophe plötzlich auf die Erde herabkommen¬
des vorgestellt wird, und so finden sich auch in dem Messiasbildc, wenn wir
die eigenen Ansprüche Jesu zu Rathe ziehen, Züge, welche mit der rein geisti¬
gen Umbildung dieser Idee wenig Harmoniren wollen; z. B. wenn Jesus sagt,
unter dem Wehklagen aller Völker der Erde werde man des Menschen Sohn
auf den Wolken kommen sehen mit großer Macht und Herrlichkeit, er werde
seine Engel aussenden mit einer stark schallenden Trompete, um von allen vier
Winden her seine Auserwählten zu versammeln, hieraus sich auf einen Thron
setzen, um alle Menschen zu richten, die einen ins ewige Feuer, die andern
ins ewige Leben eingehen zu lassen; und zwar werde die jetzige Generation
nicht vergehen, bis dies alles geschehen werde. Solche Phantasiebilder sehen doch
nicht gerade aus wie eine vollständige Abstreifung aller äußerlich theokratischen
Bestandtheile des Messiasglaubens!

Wie sind nun alle diese Widersprüche zu lösen? Hier stehen wir offenbar
vor dem schwierigsten Problem für den Biographen Jesu.

Man hat geglaubt, sie am leichtesten dadurch zu losen, daß man eine all-
mälige Entwicklung in dem religiösen Ideal Jesu annahm. Jesus hätte, nach¬
dem er im Anfange das neue Princip in seiner Reinheit ausgesprochen, doch in
der Praxis anfänglich sich noch enger an das jüdische Wesen angeschlossen, dessen
geistige Reformation angestrebt, nach und nach aber theils durch die treibende
Consequenz seines Princips, theils durch den Widerstand, den er gerade bei den
Juden fand, sei er weiter geführt und, des universalen Charakters seiner Lehre


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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 23, 1864, II. Semester. III. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341799_189094/460>, abgerufen am 28.09.2024.