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Die Grenzboten. Jg. 23, 1864, II. Semester. III. Band.

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in", in welche hier die neue christliche Weltanschauung gegossen ist, sich getreu
und unverlierbar in der christlichen Erinnerung befestigt haben. Die in der
Bergrede ausgesprochenen oder vielmehr hier zusammengestellten Gedanken sind
der einzig zuverlässige historische Anhaltspunkt. mittelst dessen wir der Persön¬
lichkeit Jesu und der Entwicklung seines geistigen Bewußtseins näher kommen
können. Mit den hier vorliegenden Bausteinen hat der Biograph sein Funda¬
ment zu legen. Hier oder nirgends findet er festen Grund, auf welchem er
weiter bauen kann. Denn von hier aus läßt sich sowohl nach rückwärts ein
Schluß auf die religiöse Anlage und Natur Jesu machen, als wir nach vor¬
wärts einen leitenden Faden gewinnen, um durch die unsichere, widerspruchs¬
volle Darstellung seines Verhältnisses zu den einzelnen Fragen, die in Bälde
praktisch werden mußten, uns zurecht zu finden. Diesen mühsamen aber allein
lohnenden Weg eingeschlagen zu haben, ist das wesentliche Verdienst des neuen
straußischen Werks. Strauß versucht es, zuerst den religiösen Charakter Jesu
zu zeichnen, schildert dann die Züge des sittlich-religiösen Ideals, dessen Ver¬
wirklichung Jesus als seine Lebensaufgabe erkannte, und von hier aus bahnt
er sich den Weg zur Erörterung aller der weiteren Fragen, wie Jesus sich zur
Messiasidee. zum jüdischen Gesetz, zur Heidenwelt gestellt habe. Schritt für
Schritt ergiebt sich so das Eine aus dem Anderen, jede gewonnene Erkennt¬
niß ist wieder die Leuchte für das folgende Stück Wegs; ein zusammenstim¬
mendes harmonisches Bild von der Person und dem Werk Jesu ist, wenn es
überhaupt möglich ist, nur auf diesem Wege möglich.

Der centrale Punkt ist schließlich allerdings die Frage: in welchem Sinne
hat Jesus auf sich den Begriff des jüdischen Messias angewandt? Allein eben
um diese Frage zu beantworten, ist es nothwendig, aus das unmittelbare reli¬
giöse Bewußtsein in Jesus zurückzugehen. Nicht von der Ueberzeugung aus,
der Messias zu sein, -- sagt Strauß, einer fruchtbaren Andeutung Schleier-
machers folgend -- hat sich das eigenthümliche Selbstbewußtsein Jesu entwickelt,
sondern umgekehrt: von seinem Selbstbewußtsein aus ist er zu der Ansicht ge¬
kommen, daß mit den messianischen Weissagungen niemand anders gemeint sein
könne als er. Er hätte die theokratischen Messiashvffnungen nicht überwunden,
wenn er nicht zur Messiasidee, ehe er dieselbe auf sich anwandte, eine religiöse
Grundanschauung schon mitgebracht hätte, durch welche jene Idee umgebildet,
ihrer sinnlich nationalen Bestandtheile entkleidet wurde. Wandte er dieselbe
auf sich an, ehe er ihr ein eigenthümliches religiöses Bewußtsein entgegenzu¬
stellen hatte, so kam sie so übermächtig über ihn, daß er sich ihrer schwerlich
mehr erwehren konnte; finden wir sie dagegen in seinem Leben und Handeln
überwunden, so wird wahrscheinlich, daß er sich erst dann innerlich mit der¬
selben eingelassen hat, als er es vermöge der Erstarkung seines eigenthümlichen
religiösen Bewußtseins mit ihr aufnehmen konnte.


in», in welche hier die neue christliche Weltanschauung gegossen ist, sich getreu
und unverlierbar in der christlichen Erinnerung befestigt haben. Die in der
Bergrede ausgesprochenen oder vielmehr hier zusammengestellten Gedanken sind
der einzig zuverlässige historische Anhaltspunkt. mittelst dessen wir der Persön¬
lichkeit Jesu und der Entwicklung seines geistigen Bewußtseins näher kommen
können. Mit den hier vorliegenden Bausteinen hat der Biograph sein Funda¬
ment zu legen. Hier oder nirgends findet er festen Grund, auf welchem er
weiter bauen kann. Denn von hier aus läßt sich sowohl nach rückwärts ein
Schluß auf die religiöse Anlage und Natur Jesu machen, als wir nach vor¬
wärts einen leitenden Faden gewinnen, um durch die unsichere, widerspruchs¬
volle Darstellung seines Verhältnisses zu den einzelnen Fragen, die in Bälde
praktisch werden mußten, uns zurecht zu finden. Diesen mühsamen aber allein
lohnenden Weg eingeschlagen zu haben, ist das wesentliche Verdienst des neuen
straußischen Werks. Strauß versucht es, zuerst den religiösen Charakter Jesu
zu zeichnen, schildert dann die Züge des sittlich-religiösen Ideals, dessen Ver¬
wirklichung Jesus als seine Lebensaufgabe erkannte, und von hier aus bahnt
er sich den Weg zur Erörterung aller der weiteren Fragen, wie Jesus sich zur
Messiasidee. zum jüdischen Gesetz, zur Heidenwelt gestellt habe. Schritt für
Schritt ergiebt sich so das Eine aus dem Anderen, jede gewonnene Erkennt¬
niß ist wieder die Leuchte für das folgende Stück Wegs; ein zusammenstim¬
mendes harmonisches Bild von der Person und dem Werk Jesu ist, wenn es
überhaupt möglich ist, nur auf diesem Wege möglich.

Der centrale Punkt ist schließlich allerdings die Frage: in welchem Sinne
hat Jesus auf sich den Begriff des jüdischen Messias angewandt? Allein eben
um diese Frage zu beantworten, ist es nothwendig, aus das unmittelbare reli¬
giöse Bewußtsein in Jesus zurückzugehen. Nicht von der Ueberzeugung aus,
der Messias zu sein, — sagt Strauß, einer fruchtbaren Andeutung Schleier-
machers folgend — hat sich das eigenthümliche Selbstbewußtsein Jesu entwickelt,
sondern umgekehrt: von seinem Selbstbewußtsein aus ist er zu der Ansicht ge¬
kommen, daß mit den messianischen Weissagungen niemand anders gemeint sein
könne als er. Er hätte die theokratischen Messiashvffnungen nicht überwunden,
wenn er nicht zur Messiasidee, ehe er dieselbe auf sich anwandte, eine religiöse
Grundanschauung schon mitgebracht hätte, durch welche jene Idee umgebildet,
ihrer sinnlich nationalen Bestandtheile entkleidet wurde. Wandte er dieselbe
auf sich an, ehe er ihr ein eigenthümliches religiöses Bewußtsein entgegenzu¬
stellen hatte, so kam sie so übermächtig über ihn, daß er sich ihrer schwerlich
mehr erwehren konnte; finden wir sie dagegen in seinem Leben und Handeln
überwunden, so wird wahrscheinlich, daß er sich erst dann innerlich mit der¬
selben eingelassen hat, als er es vermöge der Erstarkung seines eigenthümlichen
religiösen Bewußtseins mit ihr aufnehmen konnte.


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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 23, 1864, II. Semester. III. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341799_189094/458>, abgerufen am 28.09.2024.