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Die Grenzboten. Jg. 23, 1864, II. Semester. III. Band.

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Keines Jüngers Bekanntschaft mit Jesus reichte ja über die Zeit hinaus, da
der letztere bereits als Verkündiger des neuen Gottesreiches aufgetreten war,
und auch aus diesem Grunde ist es wahrscheinlich, daß Jesus das, was er
wurde, in zurückgezogener Stille, in einsamer Beschäftigung mit sich und den
religiösen Dingen wurde. Daß seine, wie jedes frommen Jsraeliten, Haupt¬
nahrung das Gesetz und vornehmlich die Propheten waren, dürften wir ohne
Weiteres annehmen, auch wenn nicht seine spätere Lehrthätigkeit eine genaue
Kenntniß der religiösen Schriften seines Volkes verriethe. Am wenigsten ist
an gelehrte Bildung, an eine genaue Kenntniß fremder Religionen zu denken.
Wir haben ja bereits gesehen, wie die neue Religion, auf die alles hindrängte,
keineswegs durch Combination oder Vermengung der verschiedenen Religions¬
vorstellungen entstehen, wie sie vielmehr nur durch unmittelbares Zurückgehen
des frommen Gemüths auf die letzte Quelle aller Religiosität gefunden werden
konnte. Als Anregung hiezu genügten aber für ein gottverwandtes Gemüth
vollkommen die religiösen Motive in den Schriften des alten Bundes. Im
Uebrigen Pflegen die Biographen, wenn von der Jugendentwicklung Jesu die
Rede ist, noch auf die besonderen Eigenthümlichkeiten Galiläas hinzuweisen,
auf die Umgebung einer heiteren Natur, die fröhliche Natürlichkeit unter einem
glücklichen Himmel, den das melancholische Jerusalem nicht kannte, die Form
von Tempel, Priestern, Opfern, geschlossenen Schulen und damit die größere
Freiheit vom bleiernen Druck der äußeren Satzung, endlich die größere Ver¬
träglichkeit mit dem Heidenthum und den dadurch erweiterten Gesichtskreis einer
in heidnische Umgebung gesprengten Bevölkerung -- lauter Momente, die bei
dem gänzlichen Mangel an positiven Nachrichten im Grunde mehr die Bedeu¬
tung von Lückenbüßern haben.

Ebensowenig besitzen wir über die Art und Weise, wie Jesus während
seiner jugendlichen Entwicklung zu den religiösen Sekten seines Volkes sich
stellte, irgendwelche Kunde. Eigentlich könnten hier nur die Essäer in Frage
kommen. Allein so unläugbar die Verwandtschaft zwischen der Richtung der
Essäer und dem ältesten Christenthum ist, so wenig sind wir durch irgendeine
Andeutung zu der Annahme berechtigt, daß Jesus selbst dem Orden der Essäer
oder irgendeinem anderen Bunde angehört hätte. Wir können nicht über die
Folgerung hinausgehen, daß in den Kreisen der Essäer Jesus eine besondere
Empfänglichkeit für seine Ideen finden mußte. Neuerdings hat man eine enge
Verbindung zwischen Jesus und dem Pharisäismus nachweisen zu können ge¬
glaubt. Allein von dem lebhaften Interesse, das Jesus für diese Erscheinung
hatte, von einer gewissen Ähnlichkeit in der Terminologie der messianischen
Lehre den Schluß zu macheu, daß Jesus selbst durch die Schule der Pharisäer
gegangen sei, ,se doch ein gewagter Sprung. In jedem Falle halte Jesus in
dem Augenblick, da er öffentlich auftrat, doch grundsätzlich mit seinen Meistern


Keines Jüngers Bekanntschaft mit Jesus reichte ja über die Zeit hinaus, da
der letztere bereits als Verkündiger des neuen Gottesreiches aufgetreten war,
und auch aus diesem Grunde ist es wahrscheinlich, daß Jesus das, was er
wurde, in zurückgezogener Stille, in einsamer Beschäftigung mit sich und den
religiösen Dingen wurde. Daß seine, wie jedes frommen Jsraeliten, Haupt¬
nahrung das Gesetz und vornehmlich die Propheten waren, dürften wir ohne
Weiteres annehmen, auch wenn nicht seine spätere Lehrthätigkeit eine genaue
Kenntniß der religiösen Schriften seines Volkes verriethe. Am wenigsten ist
an gelehrte Bildung, an eine genaue Kenntniß fremder Religionen zu denken.
Wir haben ja bereits gesehen, wie die neue Religion, auf die alles hindrängte,
keineswegs durch Combination oder Vermengung der verschiedenen Religions¬
vorstellungen entstehen, wie sie vielmehr nur durch unmittelbares Zurückgehen
des frommen Gemüths auf die letzte Quelle aller Religiosität gefunden werden
konnte. Als Anregung hiezu genügten aber für ein gottverwandtes Gemüth
vollkommen die religiösen Motive in den Schriften des alten Bundes. Im
Uebrigen Pflegen die Biographen, wenn von der Jugendentwicklung Jesu die
Rede ist, noch auf die besonderen Eigenthümlichkeiten Galiläas hinzuweisen,
auf die Umgebung einer heiteren Natur, die fröhliche Natürlichkeit unter einem
glücklichen Himmel, den das melancholische Jerusalem nicht kannte, die Form
von Tempel, Priestern, Opfern, geschlossenen Schulen und damit die größere
Freiheit vom bleiernen Druck der äußeren Satzung, endlich die größere Ver¬
träglichkeit mit dem Heidenthum und den dadurch erweiterten Gesichtskreis einer
in heidnische Umgebung gesprengten Bevölkerung — lauter Momente, die bei
dem gänzlichen Mangel an positiven Nachrichten im Grunde mehr die Bedeu¬
tung von Lückenbüßern haben.

Ebensowenig besitzen wir über die Art und Weise, wie Jesus während
seiner jugendlichen Entwicklung zu den religiösen Sekten seines Volkes sich
stellte, irgendwelche Kunde. Eigentlich könnten hier nur die Essäer in Frage
kommen. Allein so unläugbar die Verwandtschaft zwischen der Richtung der
Essäer und dem ältesten Christenthum ist, so wenig sind wir durch irgendeine
Andeutung zu der Annahme berechtigt, daß Jesus selbst dem Orden der Essäer
oder irgendeinem anderen Bunde angehört hätte. Wir können nicht über die
Folgerung hinausgehen, daß in den Kreisen der Essäer Jesus eine besondere
Empfänglichkeit für seine Ideen finden mußte. Neuerdings hat man eine enge
Verbindung zwischen Jesus und dem Pharisäismus nachweisen zu können ge¬
glaubt. Allein von dem lebhaften Interesse, das Jesus für diese Erscheinung
hatte, von einer gewissen Ähnlichkeit in der Terminologie der messianischen
Lehre den Schluß zu macheu, daß Jesus selbst durch die Schule der Pharisäer
gegangen sei, ,se doch ein gewagter Sprung. In jedem Falle halte Jesus in
dem Augenblick, da er öffentlich auftrat, doch grundsätzlich mit seinen Meistern


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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 23, 1864, II. Semester. III. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341799_189094/456>, abgerufen am 28.09.2024.