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Die Grenzboten. Jg. 23, 1864, II. Semester. III. Band.

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wir das Johannesevangclium als echte historische Quelle zu betrachten hätten,
wenn Jesus das vom Himmel herabgekommene, aus wunderbare Weise in die
Menschheit gepflanzte Wort Gottes war, dann haben wir das absolute Wun¬
der, wie es die Kirche verlangt, dann steht nothwendig seine Person im Mit¬
telpunkt seiner Lehre, dann ist der Glaube an seine Gottmenschlichl'eit das A
und O des Christenthums. Dann stünde aber auch seine Mission in keinem
inneren Zusammenhange mit den vorausgegangenen Entwicklungen des mensch¬
lichen Geistes, dann stünde auch die Glaubwürdigkeit der drei ersten Evange¬
lien im bedenklichsten Lichte. Wir wissen, daß es sich gerade umgekehrt ver¬
hält, daß die Anschauung des Jvhanncsevangeliums der späteren Dogmatik
angehört, daß uns dagegen die wahre Lehre Jesu, das Ursprünglichste, was
uns von ihm erhalten ist, in den drei ersten Evangelien, insbesondre in der
Bergredc. in den Gleichnissen, in den kurzen sinnvollen Kcrnsprüchen des ersten
Evangeliums aufbewahrt ist. Und was ist denn nun Inhalt und Kern dieser
Lehre? Es ist das Allereinfachste, aber in seiner Einfachheit Fruchtbarste und
Tiefste, was je ein Mensch zum Menschen gesprochen hat. Selig werden ge¬
priesen die Armen und Trauernden, die für die Noth, die sie hienieden willig
erdulden, entschädigt werden durch die unvergänglichen Güter der unsichtbaren
Welt, selig gepriesen die Sanftmüthigen und die reinen Herzens sind, die nach
der Gerechtigkeit hungern und dürsten, die um der Gerechtigkeit willen verfolgt
werden. Nicht das äußere Thun, nicht die Befolgung äußerer Gebote, sondern
die Reinheit und Lauterkeit der Gesinnung ist die Bedingung für die Theil¬
nahme an dem neuen Gottesreich, das allen denen aufgeschlossen ist, die mit
williger Empfänglichkeit herzutretcn. selbstlose Hingabe an den Willen Got¬
tes. Abthun des Hochmuths, der Heuchelei, des falschen Scheins, Duldung
gegen Andersdenkende. Verzeihung und Gutesthun, auch am Feinde geübt,
das sind die Forderungen, die Jesus an seine Jünger stellt. Er, der in seinem
Innersten der Uebereinstimmung seines Willens mit dem göttlichen Willen be¬
wußt ist, sich als Kind des himmlischen Vaters fühlt, fordert seine Mitwelt
auf, sich in dasselbe unmittelbare Verhältniß zu Gott zu setzen. Gott ist ja,
wie er sein Vater ist. der Vater aller Menschen; alle sollen Gott lieben als
ihren Vater und ihre Mitmenschen als Brüder. Gott lieben und den Nächsten
wie sich selbst, das ist der kurze, alles in sich begreifende Inhalt seiner Lehre,
wie er sich bald als beseligende frohe Botschaft an das arme Volk, bald als
Polemik gegen die Werkheiligkeit der Pharisäer, bald in kurzen, ewig wahren
Sprüchen, bald in sinnvollen Gleichnißreden ausbreitet. Nirgends stellt Jesus
ein Dogma auf, das für die von ihm zu stiftende Gemeinschaft verbindliche
Kraft hätte, und am wenigsten stellt er seine Person voran als Kern und Spitze
eines dogmatischen Systems. Er kennt keine andere religiöse Autorität für sich
und die Seinen, als den Willen Gottes, und alle anderen sollen kosten die


wir das Johannesevangclium als echte historische Quelle zu betrachten hätten,
wenn Jesus das vom Himmel herabgekommene, aus wunderbare Weise in die
Menschheit gepflanzte Wort Gottes war, dann haben wir das absolute Wun¬
der, wie es die Kirche verlangt, dann steht nothwendig seine Person im Mit¬
telpunkt seiner Lehre, dann ist der Glaube an seine Gottmenschlichl'eit das A
und O des Christenthums. Dann stünde aber auch seine Mission in keinem
inneren Zusammenhange mit den vorausgegangenen Entwicklungen des mensch¬
lichen Geistes, dann stünde auch die Glaubwürdigkeit der drei ersten Evange¬
lien im bedenklichsten Lichte. Wir wissen, daß es sich gerade umgekehrt ver¬
hält, daß die Anschauung des Jvhanncsevangeliums der späteren Dogmatik
angehört, daß uns dagegen die wahre Lehre Jesu, das Ursprünglichste, was
uns von ihm erhalten ist, in den drei ersten Evangelien, insbesondre in der
Bergredc. in den Gleichnissen, in den kurzen sinnvollen Kcrnsprüchen des ersten
Evangeliums aufbewahrt ist. Und was ist denn nun Inhalt und Kern dieser
Lehre? Es ist das Allereinfachste, aber in seiner Einfachheit Fruchtbarste und
Tiefste, was je ein Mensch zum Menschen gesprochen hat. Selig werden ge¬
priesen die Armen und Trauernden, die für die Noth, die sie hienieden willig
erdulden, entschädigt werden durch die unvergänglichen Güter der unsichtbaren
Welt, selig gepriesen die Sanftmüthigen und die reinen Herzens sind, die nach
der Gerechtigkeit hungern und dürsten, die um der Gerechtigkeit willen verfolgt
werden. Nicht das äußere Thun, nicht die Befolgung äußerer Gebote, sondern
die Reinheit und Lauterkeit der Gesinnung ist die Bedingung für die Theil¬
nahme an dem neuen Gottesreich, das allen denen aufgeschlossen ist, die mit
williger Empfänglichkeit herzutretcn. selbstlose Hingabe an den Willen Got¬
tes. Abthun des Hochmuths, der Heuchelei, des falschen Scheins, Duldung
gegen Andersdenkende. Verzeihung und Gutesthun, auch am Feinde geübt,
das sind die Forderungen, die Jesus an seine Jünger stellt. Er, der in seinem
Innersten der Uebereinstimmung seines Willens mit dem göttlichen Willen be¬
wußt ist, sich als Kind des himmlischen Vaters fühlt, fordert seine Mitwelt
auf, sich in dasselbe unmittelbare Verhältniß zu Gott zu setzen. Gott ist ja,
wie er sein Vater ist. der Vater aller Menschen; alle sollen Gott lieben als
ihren Vater und ihre Mitmenschen als Brüder. Gott lieben und den Nächsten
wie sich selbst, das ist der kurze, alles in sich begreifende Inhalt seiner Lehre,
wie er sich bald als beseligende frohe Botschaft an das arme Volk, bald als
Polemik gegen die Werkheiligkeit der Pharisäer, bald in kurzen, ewig wahren
Sprüchen, bald in sinnvollen Gleichnißreden ausbreitet. Nirgends stellt Jesus
ein Dogma auf, das für die von ihm zu stiftende Gemeinschaft verbindliche
Kraft hätte, und am wenigsten stellt er seine Person voran als Kern und Spitze
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und die Seinen, als den Willen Gottes, und alle anderen sollen kosten die


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[0428] wir das Johannesevangclium als echte historische Quelle zu betrachten hätten, wenn Jesus das vom Himmel herabgekommene, aus wunderbare Weise in die Menschheit gepflanzte Wort Gottes war, dann haben wir das absolute Wun¬ der, wie es die Kirche verlangt, dann steht nothwendig seine Person im Mit¬ telpunkt seiner Lehre, dann ist der Glaube an seine Gottmenschlichl'eit das A und O des Christenthums. Dann stünde aber auch seine Mission in keinem inneren Zusammenhange mit den vorausgegangenen Entwicklungen des mensch¬ lichen Geistes, dann stünde auch die Glaubwürdigkeit der drei ersten Evange¬ lien im bedenklichsten Lichte. Wir wissen, daß es sich gerade umgekehrt ver¬ hält, daß die Anschauung des Jvhanncsevangeliums der späteren Dogmatik angehört, daß uns dagegen die wahre Lehre Jesu, das Ursprünglichste, was uns von ihm erhalten ist, in den drei ersten Evangelien, insbesondre in der Bergredc. in den Gleichnissen, in den kurzen sinnvollen Kcrnsprüchen des ersten Evangeliums aufbewahrt ist. Und was ist denn nun Inhalt und Kern dieser Lehre? Es ist das Allereinfachste, aber in seiner Einfachheit Fruchtbarste und Tiefste, was je ein Mensch zum Menschen gesprochen hat. Selig werden ge¬ priesen die Armen und Trauernden, die für die Noth, die sie hienieden willig erdulden, entschädigt werden durch die unvergänglichen Güter der unsichtbaren Welt, selig gepriesen die Sanftmüthigen und die reinen Herzens sind, die nach der Gerechtigkeit hungern und dürsten, die um der Gerechtigkeit willen verfolgt werden. Nicht das äußere Thun, nicht die Befolgung äußerer Gebote, sondern die Reinheit und Lauterkeit der Gesinnung ist die Bedingung für die Theil¬ nahme an dem neuen Gottesreich, das allen denen aufgeschlossen ist, die mit williger Empfänglichkeit herzutretcn. selbstlose Hingabe an den Willen Got¬ tes. Abthun des Hochmuths, der Heuchelei, des falschen Scheins, Duldung gegen Andersdenkende. Verzeihung und Gutesthun, auch am Feinde geübt, das sind die Forderungen, die Jesus an seine Jünger stellt. Er, der in seinem Innersten der Uebereinstimmung seines Willens mit dem göttlichen Willen be¬ wußt ist, sich als Kind des himmlischen Vaters fühlt, fordert seine Mitwelt auf, sich in dasselbe unmittelbare Verhältniß zu Gott zu setzen. Gott ist ja, wie er sein Vater ist. der Vater aller Menschen; alle sollen Gott lieben als ihren Vater und ihre Mitmenschen als Brüder. Gott lieben und den Nächsten wie sich selbst, das ist der kurze, alles in sich begreifende Inhalt seiner Lehre, wie er sich bald als beseligende frohe Botschaft an das arme Volk, bald als Polemik gegen die Werkheiligkeit der Pharisäer, bald in kurzen, ewig wahren Sprüchen, bald in sinnvollen Gleichnißreden ausbreitet. Nirgends stellt Jesus ein Dogma auf, das für die von ihm zu stiftende Gemeinschaft verbindliche Kraft hätte, und am wenigsten stellt er seine Person voran als Kern und Spitze eines dogmatischen Systems. Er kennt keine andere religiöse Autorität für sich und die Seinen, als den Willen Gottes, und alle anderen sollen kosten die

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 23, 1864, II. Semester. III. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341799_189094/428>, abgerufen am 28.09.2024.