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Die Grenzboten. Jg. 23, 1864, II. Semester. III. Band.

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Macht unwiderstehlich über sie kam. Eine geschichtliche Erscheinung zerfällt nur.
wenn ein Neues schon da ist, das sich, wenn auch anfangs unmerklich in die
auscinandertreibenden Fugen schiebt. Und dieses Neue kündigte sich zuerst an
in der beginnenden Reflexion, welche den alten Glauben an den höchsten Ideen
der Vernunft maß und einmal auf rein theoretischem Wege zu inneren, ja schon
monotheistischen Begriffen gelangte, dann aber die ethischen Probleme in den
Bordergrund rückte und auf diesem Wege zu Ncligionsvorsiellungen führte, welche
bereits in entschiedener Verwandtschaft mit den christlichen Ideen stehen. Hatte
Sokrates zum ersten Mal die Forderung der sittlichen Selbsterkenntnis) aufgestellt
und das Handeln aus dieser Erkenntniß heraus als das gute, walnhaft glücklich
machende bezeichnet, so schlössen sich hieran die Erkenntnißtheorien des Platon
und Aristoteles, die ethischen Systeme der Stoiker und Epikuräer und weiter
die Richtungen der Skepsis und des Eklekticismus an, eine Reihe von Ent¬
wicklungsmomenten, in welchen das praktische Interesse immer mehr das Ueber¬
gewicht über das theoretische erhielt, und die sittliche Natur des Menschen unter
demselben Gesichtspunkte, aus welchem auch das Christenthum sie auffassen muß,
zum Hauptgegenstand des Nachdenkens gemacht wurde. In allen diesen Systemen,
so verschieden ihr Ausgangspunkt und zum Theil ihr Resultat ist, lassen sich
Elemente nachweisen, die für die christliche Weltanschauung vorbereitend gewesen
sind. Bei Platon hat man dies am meisten anerkannt, der aus seiner Ansicht
vom Verhältniß der Seele zum Leib, mit seiner Jdeenlehre, deren Kern darin
besteht, daß das wahre Leben nicht das sichtbare, diesseitige, sondern das jen¬
seitige unsichtbare sei. dem christlichen Idealismus direct in die Hände arbeitete,
wie denn er und seine Nachfolger auch vom größten Einfluß auf die Ausbildung
der Kirchenlehre geworden sind. Aber auch die Stoiker mit ihrer Betonung der
Werthlosigkeit aller äußeren Güter, mit ihrer Forderung, den eigenen Willen
unter den Willen der Gottheit zu beugen, selbst die Epikuräer mit ihrem Grund¬
satz, daß man auch inmitten des Schmerzes die Fassung beibehalten müsse, mit
ihren Ermahnungen zum Erbarmen und zur Versöhnlichkeit bieten Berührungs¬
punkte mit den vom Christenthum aufgestellten sittlichen Forderungen. Die
Stoiker waren zudem die Ersten, welche die nationalen Vorurtheile des Heiden-
thums abstreiften. Aus der Gemeinsamkeit der vernünftigen Anlage in allen
Menschen zogen sie die Folgerung der wesentlichen Gleichheit und Zusammen¬
gehörigkeit aller, und ein Stoiker hat zuerst das Wort ausgesprochen, daß alle
Menschen Brüder seien, sofern sie alle Gott zum Vater haben, wie uns ein
anderes christliches Wort: Geben ist seliger denn Nehmen, in dem Satze der
Epikuräer begegnet: Gutes thun sei angenehmer als sich Gutes thun lassen.
Der Grundsatz, daß der Mensch ein sittliches Wesen sei und sein Leben als
eine sittliche Aufgabe aufzufassen habe, war das Vermächtnis), welches das
alternde Heidenthum der neuen Welt übergab.


Macht unwiderstehlich über sie kam. Eine geschichtliche Erscheinung zerfällt nur.
wenn ein Neues schon da ist, das sich, wenn auch anfangs unmerklich in die
auscinandertreibenden Fugen schiebt. Und dieses Neue kündigte sich zuerst an
in der beginnenden Reflexion, welche den alten Glauben an den höchsten Ideen
der Vernunft maß und einmal auf rein theoretischem Wege zu inneren, ja schon
monotheistischen Begriffen gelangte, dann aber die ethischen Probleme in den
Bordergrund rückte und auf diesem Wege zu Ncligionsvorsiellungen führte, welche
bereits in entschiedener Verwandtschaft mit den christlichen Ideen stehen. Hatte
Sokrates zum ersten Mal die Forderung der sittlichen Selbsterkenntnis) aufgestellt
und das Handeln aus dieser Erkenntniß heraus als das gute, walnhaft glücklich
machende bezeichnet, so schlössen sich hieran die Erkenntnißtheorien des Platon
und Aristoteles, die ethischen Systeme der Stoiker und Epikuräer und weiter
die Richtungen der Skepsis und des Eklekticismus an, eine Reihe von Ent¬
wicklungsmomenten, in welchen das praktische Interesse immer mehr das Ueber¬
gewicht über das theoretische erhielt, und die sittliche Natur des Menschen unter
demselben Gesichtspunkte, aus welchem auch das Christenthum sie auffassen muß,
zum Hauptgegenstand des Nachdenkens gemacht wurde. In allen diesen Systemen,
so verschieden ihr Ausgangspunkt und zum Theil ihr Resultat ist, lassen sich
Elemente nachweisen, die für die christliche Weltanschauung vorbereitend gewesen
sind. Bei Platon hat man dies am meisten anerkannt, der aus seiner Ansicht
vom Verhältniß der Seele zum Leib, mit seiner Jdeenlehre, deren Kern darin
besteht, daß das wahre Leben nicht das sichtbare, diesseitige, sondern das jen¬
seitige unsichtbare sei. dem christlichen Idealismus direct in die Hände arbeitete,
wie denn er und seine Nachfolger auch vom größten Einfluß auf die Ausbildung
der Kirchenlehre geworden sind. Aber auch die Stoiker mit ihrer Betonung der
Werthlosigkeit aller äußeren Güter, mit ihrer Forderung, den eigenen Willen
unter den Willen der Gottheit zu beugen, selbst die Epikuräer mit ihrem Grund¬
satz, daß man auch inmitten des Schmerzes die Fassung beibehalten müsse, mit
ihren Ermahnungen zum Erbarmen und zur Versöhnlichkeit bieten Berührungs¬
punkte mit den vom Christenthum aufgestellten sittlichen Forderungen. Die
Stoiker waren zudem die Ersten, welche die nationalen Vorurtheile des Heiden-
thums abstreiften. Aus der Gemeinsamkeit der vernünftigen Anlage in allen
Menschen zogen sie die Folgerung der wesentlichen Gleichheit und Zusammen¬
gehörigkeit aller, und ein Stoiker hat zuerst das Wort ausgesprochen, daß alle
Menschen Brüder seien, sofern sie alle Gott zum Vater haben, wie uns ein
anderes christliches Wort: Geben ist seliger denn Nehmen, in dem Satze der
Epikuräer begegnet: Gutes thun sei angenehmer als sich Gutes thun lassen.
Der Grundsatz, daß der Mensch ein sittliches Wesen sei und sein Leben als
eine sittliche Aufgabe aufzufassen habe, war das Vermächtnis), welches das
alternde Heidenthum der neuen Welt übergab.


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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 23, 1864, II. Semester. III. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341799_189094/424>, abgerufen am 28.09.2024.