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Die Grenzboten. Jg. 23, 1864, II. Semester. III. Band.

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Bei Baur und Strauß*) finden sich die werthvollsten Untersuchungen gerade
über diese Seite des entstehenden Christenthums. Indem Baur die Grundzüge
des urchristlicher Bewußtseins entwickelte, erkannte er darin eine dem Geist der
Zeit entsprechende und durch die ganze bisherige Entwicklungsgeschichte der
Völker vorbereitete allgemeine Form des religiösen Bewußtseins, und Strauß
sagt in demselben Sinne: ich weiß nicht, ob der übernatürlichste Ursprung, den
man dem Christenthum zuschreiben mag, ehrenvoller für dasselbe sein kann, als
wenn die Geschichtforschung nachzuweisen sucht, wie es die reife Frucht alles
desjenigen gewesen sei, was bis dahin in allen Zweigen der großen Menschen-
familie als höheres Streben sich geregt hatte, An der Entwicklung des Juden-
thums und an der des Heidenthums, fährt er fort, haben wir gleichsam zwei
Linien, jede durch ein eigenthümliches Streben weitergeführt und doch bestimmt,
schließlich in Einem Punkte zusammenzutreffen, der dann eben die Stätte für
die Entstehung der neuen Religion werden mußte.

Geht man von den allgemeinen Weltverhältnissen aus. so ist schon hier
die innere Beziehung nicht zu verkennen. Die geistige Universalität des Christen¬
thums ist erst verständlich im Hinblick auf den Universalismus der römischen
Weltherrschaft und die dadurch bewirkte Verschmelzung der politischen und geistigen
Interessen der damaligen Welt. Es könnte, sagt Vaur, nicht diese allgemeine
Form des religiösen Bewußtseins, die es ist, sein, wenn nicht die ganze Ent¬
wicklung der Weltgeschichte bis aus die Zeit des Christenthums, die allgemeine
geistige Bildung, die durch die Griechen das Gemeingut der Völker wurde, die
die Völker vereinigende Herrschaft der Römer, mit allen ihren politischen In¬
stitutionen und der auf ihnen beruhenden allgemeinen Civilisation, die Schranken
des Nationalbewußtseins durchbrochen und so vieles aufgehoben hätte, was die
Völker in ihren gegenseitigen Verhältnissen nicht blos äußerlich, sondern weit
mehr innerlich von einander trennte. Der Universalismus des Christenthums
hätte nie in das allgemeine Bewußtsein der Völker übergehen können, wenn er
nicht den politischen Universalismus zu seiner Vorstufe gehabt hätte, er ist selbst
wesentlich dieselbe allgemeine Form des Bewußtseins, zu welcher die Entwicklung
der Menschheit bis auf die Zeit der Erscheinung des Christenthums schon fort¬
geschritten war.

Was dann die heidnischen Religionen betrifft, so waren dieselben freilich
in einen Zustand des Verfalls gerathen, der auf der einen Seite eine große
Sittenverderbniß und den krassesten Aberglauben, auf der anderen ein Gefühl
unendlicher Leere und das Bedürfniß einer wahrhaften Befriedigung erzeugen
mußte. Allein die Volksreligion verfiel doch nur darum, weil eine höhere



1 Man vgl. zu dem Folgenden Baur, das Christenthum der drei ersten Jahrhunderte.
S. 2 ff. Strauß. Leben Jesu für das deutsche Volk, S. 65 ff.

Bei Baur und Strauß*) finden sich die werthvollsten Untersuchungen gerade
über diese Seite des entstehenden Christenthums. Indem Baur die Grundzüge
des urchristlicher Bewußtseins entwickelte, erkannte er darin eine dem Geist der
Zeit entsprechende und durch die ganze bisherige Entwicklungsgeschichte der
Völker vorbereitete allgemeine Form des religiösen Bewußtseins, und Strauß
sagt in demselben Sinne: ich weiß nicht, ob der übernatürlichste Ursprung, den
man dem Christenthum zuschreiben mag, ehrenvoller für dasselbe sein kann, als
wenn die Geschichtforschung nachzuweisen sucht, wie es die reife Frucht alles
desjenigen gewesen sei, was bis dahin in allen Zweigen der großen Menschen-
familie als höheres Streben sich geregt hatte, An der Entwicklung des Juden-
thums und an der des Heidenthums, fährt er fort, haben wir gleichsam zwei
Linien, jede durch ein eigenthümliches Streben weitergeführt und doch bestimmt,
schließlich in Einem Punkte zusammenzutreffen, der dann eben die Stätte für
die Entstehung der neuen Religion werden mußte.

Geht man von den allgemeinen Weltverhältnissen aus. so ist schon hier
die innere Beziehung nicht zu verkennen. Die geistige Universalität des Christen¬
thums ist erst verständlich im Hinblick auf den Universalismus der römischen
Weltherrschaft und die dadurch bewirkte Verschmelzung der politischen und geistigen
Interessen der damaligen Welt. Es könnte, sagt Vaur, nicht diese allgemeine
Form des religiösen Bewußtseins, die es ist, sein, wenn nicht die ganze Ent¬
wicklung der Weltgeschichte bis aus die Zeit des Christenthums, die allgemeine
geistige Bildung, die durch die Griechen das Gemeingut der Völker wurde, die
die Völker vereinigende Herrschaft der Römer, mit allen ihren politischen In¬
stitutionen und der auf ihnen beruhenden allgemeinen Civilisation, die Schranken
des Nationalbewußtseins durchbrochen und so vieles aufgehoben hätte, was die
Völker in ihren gegenseitigen Verhältnissen nicht blos äußerlich, sondern weit
mehr innerlich von einander trennte. Der Universalismus des Christenthums
hätte nie in das allgemeine Bewußtsein der Völker übergehen können, wenn er
nicht den politischen Universalismus zu seiner Vorstufe gehabt hätte, er ist selbst
wesentlich dieselbe allgemeine Form des Bewußtseins, zu welcher die Entwicklung
der Menschheit bis auf die Zeit der Erscheinung des Christenthums schon fort¬
geschritten war.

Was dann die heidnischen Religionen betrifft, so waren dieselben freilich
in einen Zustand des Verfalls gerathen, der auf der einen Seite eine große
Sittenverderbniß und den krassesten Aberglauben, auf der anderen ein Gefühl
unendlicher Leere und das Bedürfniß einer wahrhaften Befriedigung erzeugen
mußte. Allein die Volksreligion verfiel doch nur darum, weil eine höhere



1 Man vgl. zu dem Folgenden Baur, das Christenthum der drei ersten Jahrhunderte.
S. 2 ff. Strauß. Leben Jesu für das deutsche Volk, S. 65 ff.
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[0423] Bei Baur und Strauß*) finden sich die werthvollsten Untersuchungen gerade über diese Seite des entstehenden Christenthums. Indem Baur die Grundzüge des urchristlicher Bewußtseins entwickelte, erkannte er darin eine dem Geist der Zeit entsprechende und durch die ganze bisherige Entwicklungsgeschichte der Völker vorbereitete allgemeine Form des religiösen Bewußtseins, und Strauß sagt in demselben Sinne: ich weiß nicht, ob der übernatürlichste Ursprung, den man dem Christenthum zuschreiben mag, ehrenvoller für dasselbe sein kann, als wenn die Geschichtforschung nachzuweisen sucht, wie es die reife Frucht alles desjenigen gewesen sei, was bis dahin in allen Zweigen der großen Menschen- familie als höheres Streben sich geregt hatte, An der Entwicklung des Juden- thums und an der des Heidenthums, fährt er fort, haben wir gleichsam zwei Linien, jede durch ein eigenthümliches Streben weitergeführt und doch bestimmt, schließlich in Einem Punkte zusammenzutreffen, der dann eben die Stätte für die Entstehung der neuen Religion werden mußte. Geht man von den allgemeinen Weltverhältnissen aus. so ist schon hier die innere Beziehung nicht zu verkennen. Die geistige Universalität des Christen¬ thums ist erst verständlich im Hinblick auf den Universalismus der römischen Weltherrschaft und die dadurch bewirkte Verschmelzung der politischen und geistigen Interessen der damaligen Welt. Es könnte, sagt Vaur, nicht diese allgemeine Form des religiösen Bewußtseins, die es ist, sein, wenn nicht die ganze Ent¬ wicklung der Weltgeschichte bis aus die Zeit des Christenthums, die allgemeine geistige Bildung, die durch die Griechen das Gemeingut der Völker wurde, die die Völker vereinigende Herrschaft der Römer, mit allen ihren politischen In¬ stitutionen und der auf ihnen beruhenden allgemeinen Civilisation, die Schranken des Nationalbewußtseins durchbrochen und so vieles aufgehoben hätte, was die Völker in ihren gegenseitigen Verhältnissen nicht blos äußerlich, sondern weit mehr innerlich von einander trennte. Der Universalismus des Christenthums hätte nie in das allgemeine Bewußtsein der Völker übergehen können, wenn er nicht den politischen Universalismus zu seiner Vorstufe gehabt hätte, er ist selbst wesentlich dieselbe allgemeine Form des Bewußtseins, zu welcher die Entwicklung der Menschheit bis auf die Zeit der Erscheinung des Christenthums schon fort¬ geschritten war. Was dann die heidnischen Religionen betrifft, so waren dieselben freilich in einen Zustand des Verfalls gerathen, der auf der einen Seite eine große Sittenverderbniß und den krassesten Aberglauben, auf der anderen ein Gefühl unendlicher Leere und das Bedürfniß einer wahrhaften Befriedigung erzeugen mußte. Allein die Volksreligion verfiel doch nur darum, weil eine höhere 1 Man vgl. zu dem Folgenden Baur, das Christenthum der drei ersten Jahrhunderte. S. 2 ff. Strauß. Leben Jesu für das deutsche Volk, S. 65 ff.

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 23, 1864, II. Semester. III. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341799_189094/423>, abgerufen am 28.09.2024.