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Die Grenzboten. Jg. 23, 1864, II. Semester. III. Band.

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religion hatte sich überlebt und bot besseren Gemüthern keine Nahrung mehr.
Dagegen hatte sich in den schweren Leiden des auserwählten Volks die Idee
von einem kommenden Retter, dem die Herzen sehnsuchtsvoll entgegenschlugen,
immer lebhafter ausgebildet. Endlich begünstigten auch die allgemeinen welt¬
geschichtlichen Verhältnisse die Erfüllung des göttliche" Plans gerade in dieser
Zeit. Durch die römische Weltherrschaft waren die Scheidewände der Nationen
gefalle", Morgen- und Abendland hatten sich genähert, die äußere Verbreitung
der neuen Lehre mußte dadurch ungemein gefördert werden. So war alles be¬
reitet, als Gott den von Ewigkeit her gefaßten Rathschluß ausführte und seinen
Sohn in die Welt sandte.

Es lag schon in dieser Gedankenreihe ein Zugeständniß, das für die Kirchen¬
lehre gefährlich werden mußte. Je genauer man die dem Christenthum vor¬
angegangenen Zustände kennen lernte, je mehr Elemente der Vorbereitung man
in ihnen anerkennen mußte, je genauer alles zusammenstimmte, der geistige
Zustand der damaligen Welt und die äußeren Verhältnisse, um so unnöthiger
wurde es, zur Erklärung des Christenthums die Zuflucht zu einem absoluten
Wunder zu nehmen. Wenn alles so wohl vorbereitet war, wenn auch die
Führung der vorchristlichen Völker mit Absicht diesem Punkte zulenkte, so war
ja doch auch das Christenthum nur ein Theil derselben göttlichen Vorsehung,
welche überhaupt die Geschicke der Menschheit lenkt. Der göttliche Heilsplan
erstreckte sich ja über alle Geschlechter und Zeiten, und so war, auch wenn man
an der Vorstellung festhielt, daß das Ganze der Weltgeschichte Plan eines per¬
sönlichen Willens sei, doch die Annahme beseitigt, daß an diesem einzelnen Punkte
der sonstige Zusammenhang von Ursache und Wirkung unzureichend und ein
ganz besonderes wundcrthätigcs Hervortreten jenes Willens nothwendig ge¬
wesen sei.

Allein eben dieser Consequenz wich die kirchliche Ansicht aus. Was von
verwandten Regungen früher schon vorhanden war, darin wollte man gleichwohl
nicht positive Berührungspunkte mit den Ideen des Christenthums sehen.
Höchstens die Ahnung, der Seufzer der damaligen Welt kam dem Christenthum
entgegen, aber dieses selbst erwuchs nicht aus den Ruinen des Alten, sondern
wurde durch einen besonderen Willensact Gottes in sie hineingesenkt. Und wie
die Kirche von ihrem Standpunkt aus die Tugenden der Heiden für glänzende
Laster erklärte, so mußte sie folgerichtig auch in den reinsten und gclciutertsten
Religionsbegriffen, die da und dort vor Christus ausgesprochen wurden, nur
glänzende Irrthümer erblicken, ein Tasten im Dunkel, das erst durch das in
einem einzigen Individuum der Welt geschenkten Licht aufgehellt werden konnte.
Mit Einem Wort, die kirchliche Vorstellung zerriß an diesem Punkte den ge¬
schichtlichen Zusammenhang durch ein Wunder. Die Geschichte hat durch Be¬
seitigung des Wunders diesen Zusammenhang wiederherzustellen.


religion hatte sich überlebt und bot besseren Gemüthern keine Nahrung mehr.
Dagegen hatte sich in den schweren Leiden des auserwählten Volks die Idee
von einem kommenden Retter, dem die Herzen sehnsuchtsvoll entgegenschlugen,
immer lebhafter ausgebildet. Endlich begünstigten auch die allgemeinen welt¬
geschichtlichen Verhältnisse die Erfüllung des göttliche» Plans gerade in dieser
Zeit. Durch die römische Weltherrschaft waren die Scheidewände der Nationen
gefalle», Morgen- und Abendland hatten sich genähert, die äußere Verbreitung
der neuen Lehre mußte dadurch ungemein gefördert werden. So war alles be¬
reitet, als Gott den von Ewigkeit her gefaßten Rathschluß ausführte und seinen
Sohn in die Welt sandte.

Es lag schon in dieser Gedankenreihe ein Zugeständniß, das für die Kirchen¬
lehre gefährlich werden mußte. Je genauer man die dem Christenthum vor¬
angegangenen Zustände kennen lernte, je mehr Elemente der Vorbereitung man
in ihnen anerkennen mußte, je genauer alles zusammenstimmte, der geistige
Zustand der damaligen Welt und die äußeren Verhältnisse, um so unnöthiger
wurde es, zur Erklärung des Christenthums die Zuflucht zu einem absoluten
Wunder zu nehmen. Wenn alles so wohl vorbereitet war, wenn auch die
Führung der vorchristlichen Völker mit Absicht diesem Punkte zulenkte, so war
ja doch auch das Christenthum nur ein Theil derselben göttlichen Vorsehung,
welche überhaupt die Geschicke der Menschheit lenkt. Der göttliche Heilsplan
erstreckte sich ja über alle Geschlechter und Zeiten, und so war, auch wenn man
an der Vorstellung festhielt, daß das Ganze der Weltgeschichte Plan eines per¬
sönlichen Willens sei, doch die Annahme beseitigt, daß an diesem einzelnen Punkte
der sonstige Zusammenhang von Ursache und Wirkung unzureichend und ein
ganz besonderes wundcrthätigcs Hervortreten jenes Willens nothwendig ge¬
wesen sei.

Allein eben dieser Consequenz wich die kirchliche Ansicht aus. Was von
verwandten Regungen früher schon vorhanden war, darin wollte man gleichwohl
nicht positive Berührungspunkte mit den Ideen des Christenthums sehen.
Höchstens die Ahnung, der Seufzer der damaligen Welt kam dem Christenthum
entgegen, aber dieses selbst erwuchs nicht aus den Ruinen des Alten, sondern
wurde durch einen besonderen Willensact Gottes in sie hineingesenkt. Und wie
die Kirche von ihrem Standpunkt aus die Tugenden der Heiden für glänzende
Laster erklärte, so mußte sie folgerichtig auch in den reinsten und gclciutertsten
Religionsbegriffen, die da und dort vor Christus ausgesprochen wurden, nur
glänzende Irrthümer erblicken, ein Tasten im Dunkel, das erst durch das in
einem einzigen Individuum der Welt geschenkten Licht aufgehellt werden konnte.
Mit Einem Wort, die kirchliche Vorstellung zerriß an diesem Punkte den ge¬
schichtlichen Zusammenhang durch ein Wunder. Die Geschichte hat durch Be¬
seitigung des Wunders diesen Zusammenhang wiederherzustellen.


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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 23, 1864, II. Semester. III. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341799_189094/422>, abgerufen am 28.09.2024.