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Die Grenzboten. Jg. 23, 1864, II. Semester. III. Band.

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Da t'köpfe ihm ein großer bärtiger Türke auf die Schulter und redet ihn auf
Friesisch an. Es war Jens Balser, der den erstaunten jungen Mann
frei kaufte. '

Bis in den Anfang dieses Jahrhunderts währte diese Blüthezeit der Jn-
selfriescn. Die Capitalien häuften sich, die Häuser füllten sich mit Luxus-
gegenständen, das lustigste Leben begann, wenn im Herbst Hunderte lebensfroher
und der Erholung bedürftiger Seefahrer mit vollem Beutel aus der Ferne heim¬
kehrten. Mancherlei Verbesserungen wurden eingeführt. Doch hatte diese Pe¬
riode auch ihre Schattenseite. Die nach allen vier Winden zerstreuten Seeleute
kehrten, je weiter ihre Reisen wurden, immer seltener heim, manche erst nach
zehnjähriger Abwesenheit, manche sogar erst, wenn sie, alt geworden, sich zur
Ruhe setzen wollten, und inzwischen blieb die Hauswirthschaft und die Kinder¬
zucht den Frauen überlassen, die auch den Acker zu bestellen hatten. Biele
Mädchen verheirateten sich niemals, andere lebten nur einige Monate im Ehe¬
stande, dann Jahre lang wie Wittwen. Häufig waren Unfälle zur See, und
bisweilen versetzte ein stürmisches Jcchr alle Dorfschaften der Inseln in Trauer.
Im März 1744 ging ein Schmackschiff mit 90 spider Seeleuten, die in Holland
als Matrosen zu dienen beabsichtigten, an der Westküste unter, und im Herbste
desselben Jahres scheiterte bei Föhr ein anderes Schiff mit 120 nvrdfriesischen
Wallfischfängern, die eben mit ihrem Lohn von Amsterdam heimkehrten, und
von denen nicht einer gerettet wurde. Während der Jahre 1760 bis 1762
verunglückten allein zehn spider SchiffScapitäne, andere Jahre wäre" oft nicht
weniger unheilvoll, und so war das Berhättniß der weiblichen zur männlichen
Bevölkerung um das Jahr 1760 wie 16 zu 11. Man rechnet, daß allein die
Insel Sylt im Laufe des 18. Jahrhunderts gegen 1300 ihrer tüchtigsten Män¬
ner auf der See verloren hat. Und die, welche heimkehrten, um ihre Tage
hier zu beschließen, kamen in der Regel als Kosmopoliten wieder, die, gleich¬
gültig gegen ihre Nationalität, wenig bekannt mit den alten Freiheiten und
wenig geneigt, sich mit der Bertheidigung derselben zu bemühen, gewöhnlich
geschehen ließen, was geschehen wollte. Die stets zu Hause bleibenden übrigen
männlichen Bewohner der Inseln waren damals meist körperlich oder geistig
vernachlässigte Leute, die sich als kleine Landwirthe, Tagelöhner. Wattenschiffer
oder Handwerker, als Fischer oder Krämer mehr ober minder kümmerlich er¬
nährten, geringe Achtung genossen und so auf die geistigen und materiellen Zu¬
stände des Volkes fast gar keinen Einfluß hatten. Es mangelten Gemcinsiiin
und Zusammenhalt, und bei allem Wohlstand der Einzelnen kamen so in den
letzten hundert Jahren nur wenige gemeinnützige Anstalten zu Stande. Auf
Sylt haben die Schullehrer für einige Bvtksbibliothcken gesorgt. Dagegen hat
man es hier seit zweihundert Jahren zu keiner Eindeichung der Marsch und
bis jetzt noch zu keinen genügenden Anstalten zur Bergung der an diese Küste


Da t'köpfe ihm ein großer bärtiger Türke auf die Schulter und redet ihn auf
Friesisch an. Es war Jens Balser, der den erstaunten jungen Mann
frei kaufte. '

Bis in den Anfang dieses Jahrhunderts währte diese Blüthezeit der Jn-
selfriescn. Die Capitalien häuften sich, die Häuser füllten sich mit Luxus-
gegenständen, das lustigste Leben begann, wenn im Herbst Hunderte lebensfroher
und der Erholung bedürftiger Seefahrer mit vollem Beutel aus der Ferne heim¬
kehrten. Mancherlei Verbesserungen wurden eingeführt. Doch hatte diese Pe¬
riode auch ihre Schattenseite. Die nach allen vier Winden zerstreuten Seeleute
kehrten, je weiter ihre Reisen wurden, immer seltener heim, manche erst nach
zehnjähriger Abwesenheit, manche sogar erst, wenn sie, alt geworden, sich zur
Ruhe setzen wollten, und inzwischen blieb die Hauswirthschaft und die Kinder¬
zucht den Frauen überlassen, die auch den Acker zu bestellen hatten. Biele
Mädchen verheirateten sich niemals, andere lebten nur einige Monate im Ehe¬
stande, dann Jahre lang wie Wittwen. Häufig waren Unfälle zur See, und
bisweilen versetzte ein stürmisches Jcchr alle Dorfschaften der Inseln in Trauer.
Im März 1744 ging ein Schmackschiff mit 90 spider Seeleuten, die in Holland
als Matrosen zu dienen beabsichtigten, an der Westküste unter, und im Herbste
desselben Jahres scheiterte bei Föhr ein anderes Schiff mit 120 nvrdfriesischen
Wallfischfängern, die eben mit ihrem Lohn von Amsterdam heimkehrten, und
von denen nicht einer gerettet wurde. Während der Jahre 1760 bis 1762
verunglückten allein zehn spider SchiffScapitäne, andere Jahre wäre» oft nicht
weniger unheilvoll, und so war das Berhättniß der weiblichen zur männlichen
Bevölkerung um das Jahr 1760 wie 16 zu 11. Man rechnet, daß allein die
Insel Sylt im Laufe des 18. Jahrhunderts gegen 1300 ihrer tüchtigsten Män¬
ner auf der See verloren hat. Und die, welche heimkehrten, um ihre Tage
hier zu beschließen, kamen in der Regel als Kosmopoliten wieder, die, gleich¬
gültig gegen ihre Nationalität, wenig bekannt mit den alten Freiheiten und
wenig geneigt, sich mit der Bertheidigung derselben zu bemühen, gewöhnlich
geschehen ließen, was geschehen wollte. Die stets zu Hause bleibenden übrigen
männlichen Bewohner der Inseln waren damals meist körperlich oder geistig
vernachlässigte Leute, die sich als kleine Landwirthe, Tagelöhner. Wattenschiffer
oder Handwerker, als Fischer oder Krämer mehr ober minder kümmerlich er¬
nährten, geringe Achtung genossen und so auf die geistigen und materiellen Zu¬
stände des Volkes fast gar keinen Einfluß hatten. Es mangelten Gemcinsiiin
und Zusammenhalt, und bei allem Wohlstand der Einzelnen kamen so in den
letzten hundert Jahren nur wenige gemeinnützige Anstalten zu Stande. Auf
Sylt haben die Schullehrer für einige Bvtksbibliothcken gesorgt. Dagegen hat
man es hier seit zweihundert Jahren zu keiner Eindeichung der Marsch und
bis jetzt noch zu keinen genügenden Anstalten zur Bergung der an diese Küste


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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 23, 1864, II. Semester. III. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341799_189094/38>, abgerufen am 28.09.2024.