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Die Grenzboten. Jg. 23, 1864, II. Semester. III. Band.

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Keiner wird behaupten, die Bildung, deren sich das italienische Volk er¬
freut, sei tief oder umfangreich oder doch mannigfach. Im Gegentheil könnte
italienischen Fürsten und Prälaten ein deutscher Schulknabe in der Geographie
noch zu rathen aufgeben. Und ein armer deutscher Bursch im Bauernkittel, der
mühsam seine Worte erst schürfen und prägen muh, der bei ihrem Bortrage
vor lauter Verlegenheit rothen Kopf und unsichere Beine bekommt, weiß doch
mehr von Recht und Religion, als so ein malerischer Neapolitaner Fischer, der
mit dem schönsten und lebendigsten Anstand in sein Boot einladet und im
Vorüberfahren uns den blühendsten Unsinn von den Dingen am Ufer vorwirbelt.
Allein wahr bleibt es doch: das bischen Bildung, das in Italien einmal vor¬
handen, ist überall im Volke verbreitet und hat einen gefälligen Anstrich. Wie
lebhaft äußert sich, um nur Eins zu nennen, der Schönheitssinn auch bei den
untern Classen!

Entschieden ist auch der Rechnungs- und Handelsgeist, welcher die ganze
Halbinsel erfüllt, von städtischem Carakter. Wie durch amerikanisches Reden
beständig Cents und Dollars rollen, so hört man in einem Jtalienergespräch
immer Zehn und Zwanzig und Hundert klingen. Der letzte Käsemacher auf
den Bergen erscheint noch wie ein rechnender Krämer, und der lumpigste
Feldarbeiter noch als ein armseliger Städter.

Mehr noch, als durch diesen rastlosen listigen Handelsgeist, fühlt sich der
Deutsche durch etwas verletzt, worin ihm der Italiener weit überlegen ist. Das
ist das immer fertige, immer kluge Selbstgefühl. Keine europäische Nation hat
von diesem Lebenswasser zur Zeit so wenig in ihren Adern, als die deutsche,
keine mehr, als die Italiener. Unser nationaler Egoismus bleibt vollends in
der Politik die Güte und Schwäche selbst. Der Italiener dagegen ist von Kin¬
desbeinen ein klarer scharfer Egoist. Er berechnet immer, und seine Wünsche
sind lebhast und bestimmt. Im selben Augenblick, wo er sein Ziel erblickt, hat
er Mittel und Hindernisse überschlagen, und im selben Augenblicke geht er
schon darauf los: kein anderes Gefühl, keine andere Stimme in seinem Innern
hält ihn zurück. Im obern und mittleren Italien hält die Scheu vor der öffent¬
lichen Meinung Ausbrüche der Selbstsucht noch einigermaßen in Schranken:
im Süden wird auch dieser Zügel schlaffer. Wo hier nicht innerer Stolz und
Familiensinn an seine Stelle treten, fühlt der Fremde, namentlich in Sicilien.
sich öfter zu fragen versucht: streifen wir hier etwa schon in den Orient hinein?

Das deutsche Gemüth muß erst sein schweres, dunkles Wogen und Wallen
besiegen, dann hält es in Treue fest. Der deutsche Verstand muß erst durch
seine angebornen Nebel und Wolken sich hindurchringen, aber indem er sich
schärft und anstrengt, dringt eine stählerne Spitze aus ihm hervor, die sich ins
Innerste der Dinge einbohrt. Diese Süditaliener dagegen? Zwei Worte, und
sie verstehen eine ganze Schlußfolgerung. Ein Funken, und sie sind im Feuer.


Keiner wird behaupten, die Bildung, deren sich das italienische Volk er¬
freut, sei tief oder umfangreich oder doch mannigfach. Im Gegentheil könnte
italienischen Fürsten und Prälaten ein deutscher Schulknabe in der Geographie
noch zu rathen aufgeben. Und ein armer deutscher Bursch im Bauernkittel, der
mühsam seine Worte erst schürfen und prägen muh, der bei ihrem Bortrage
vor lauter Verlegenheit rothen Kopf und unsichere Beine bekommt, weiß doch
mehr von Recht und Religion, als so ein malerischer Neapolitaner Fischer, der
mit dem schönsten und lebendigsten Anstand in sein Boot einladet und im
Vorüberfahren uns den blühendsten Unsinn von den Dingen am Ufer vorwirbelt.
Allein wahr bleibt es doch: das bischen Bildung, das in Italien einmal vor¬
handen, ist überall im Volke verbreitet und hat einen gefälligen Anstrich. Wie
lebhaft äußert sich, um nur Eins zu nennen, der Schönheitssinn auch bei den
untern Classen!

Entschieden ist auch der Rechnungs- und Handelsgeist, welcher die ganze
Halbinsel erfüllt, von städtischem Carakter. Wie durch amerikanisches Reden
beständig Cents und Dollars rollen, so hört man in einem Jtalienergespräch
immer Zehn und Zwanzig und Hundert klingen. Der letzte Käsemacher auf
den Bergen erscheint noch wie ein rechnender Krämer, und der lumpigste
Feldarbeiter noch als ein armseliger Städter.

Mehr noch, als durch diesen rastlosen listigen Handelsgeist, fühlt sich der
Deutsche durch etwas verletzt, worin ihm der Italiener weit überlegen ist. Das
ist das immer fertige, immer kluge Selbstgefühl. Keine europäische Nation hat
von diesem Lebenswasser zur Zeit so wenig in ihren Adern, als die deutsche,
keine mehr, als die Italiener. Unser nationaler Egoismus bleibt vollends in
der Politik die Güte und Schwäche selbst. Der Italiener dagegen ist von Kin¬
desbeinen ein klarer scharfer Egoist. Er berechnet immer, und seine Wünsche
sind lebhast und bestimmt. Im selben Augenblick, wo er sein Ziel erblickt, hat
er Mittel und Hindernisse überschlagen, und im selben Augenblicke geht er
schon darauf los: kein anderes Gefühl, keine andere Stimme in seinem Innern
hält ihn zurück. Im obern und mittleren Italien hält die Scheu vor der öffent¬
lichen Meinung Ausbrüche der Selbstsucht noch einigermaßen in Schranken:
im Süden wird auch dieser Zügel schlaffer. Wo hier nicht innerer Stolz und
Familiensinn an seine Stelle treten, fühlt der Fremde, namentlich in Sicilien.
sich öfter zu fragen versucht: streifen wir hier etwa schon in den Orient hinein?

Das deutsche Gemüth muß erst sein schweres, dunkles Wogen und Wallen
besiegen, dann hält es in Treue fest. Der deutsche Verstand muß erst durch
seine angebornen Nebel und Wolken sich hindurchringen, aber indem er sich
schärft und anstrengt, dringt eine stählerne Spitze aus ihm hervor, die sich ins
Innerste der Dinge einbohrt. Diese Süditaliener dagegen? Zwei Worte, und
sie verstehen eine ganze Schlußfolgerung. Ein Funken, und sie sind im Feuer.


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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 23, 1864, II. Semester. III. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341799_189094/350>, abgerufen am 28.09.2024.