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Die Grenzboten. Jg. 23, 1864, II. Semester. III. Band.

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zu Zeiten das Bedürfniß fühlte, sich mit Behagen nach Art und Sitte der nie¬
dern Classen zu ergehen. Und andrerseits verkehrt der Niedrige mit dem Höher¬
stehenden auf einem gewissen Gleichheitssuße. Da findet sich von dem demü¬
thigen Sinn unserer Arbeiter, von dem innerlich sich gebunden Fühlen unseres
Gesindes keine Spur. In Italien will es uns bedünken, hat es niemals
Hörige und Leibeigene gegeben: wer nicht zur besitzenden Klasse gehört, scheint
nur heruntergekommen. Auch der gemeine Mann fühlt sich in Italien leicht
und frei. Um ein Geschäft zu machen, ist er über die Maßen höflich, kriecht
und schmeichelt; im selben Augenblick aber schnellt er wieder empor und dünkt sich
als freier und unabhängiger Mensch.

In den großen Massen des niedern Volkes und in seinem leicht geschürzten
Freiheitssinn besteht einer der stärksten Gegensätze zwischen Süditalien und
Deutschland. Denn was stellt bei uns sich dar als Kern und Boden der Na¬
tion? Der gebildete Mittelstand ist es. Er füllt unsere Städte, hat seit Jahr¬
hunderten beständig an Bedeutung gewonnen und zieht in den Kreis der bür¬
gerlichen Sitte und Geschäfte jetzt auch den Bauer auf seinem Hose, wie den
Adel auf seinen Schlössern. Dieser Mittelstand von solider Bildung und ge-
sicherteMjWohlstande ist bei uns in religiösen, socialen, politischen Dingen haupt¬
sächlich das Bestimmende. Eine Bewegung dagegen, welche in Süditalien von
Advocaten, Aerzten, Gelehrten und kleinen Gutsbesitzern und was man sonst
zum Mittelstande rechnen könnte, ausgeht, ist darum noch keine Volksbewegung.
Sie kann im ersten Augenblicke gelingen; ob sie aber Dauer und Erfolg hat,
das ist jedesmal ein Räthsel. Das hängt davon ab, ob Gefühl und Wille,
wie sie in der launenhaften Masse leben, damit übereinstimmt. Die große Politik
haben in Sicilien und Neapel noch immer entweder die Parteien in den höch¬
sten Kreisen gemacht, oder die tobenden Volkshaufen.

Wir hatten hier vorzüglich die zahlreichen Städte im Auge. Wie sieht es
auf dem Lande aus? Die Antwort liegt offen da: so wenig es in den Städten
einen stämmigen, wohlhäbigen Bürgerstand, so wenig giebt es aus dem Lande
einen tüchtigen Bauernstand. Das neapolitanische Land war von Natur durch
Gebirg und Meer in kleine Gebiete getheilt, in welchen Svnbergeist und städti¬
sches Leben, nicht aber breites gleichförmiges Landvolk sich ansiedelte. Dann
dehnte die mächtige Römerstadt allwärts ihr Wesen aus und verzehrte den freien
bäuerlichen Gutsbesitzer. Die römischen Herren schlugen Landgüter zusammen,
beherrschten alles, und das Volk bildete sich nach ihnen. Was aber später
von germanischer Gewöhnung über den Apennin kam, wurde von der uralten
Cultur des Landes wieder überwuchert. Die Sarazenengefahr, der Parteigeist,
der unaufhörliche Kleinkrieg im Mittelalter: alles nöthigte zum Wohnen in um¬
mauerten Orten. So wurde weithin städtische Bildung, städtisches Bedürfniß
verbreitet.


zu Zeiten das Bedürfniß fühlte, sich mit Behagen nach Art und Sitte der nie¬
dern Classen zu ergehen. Und andrerseits verkehrt der Niedrige mit dem Höher¬
stehenden auf einem gewissen Gleichheitssuße. Da findet sich von dem demü¬
thigen Sinn unserer Arbeiter, von dem innerlich sich gebunden Fühlen unseres
Gesindes keine Spur. In Italien will es uns bedünken, hat es niemals
Hörige und Leibeigene gegeben: wer nicht zur besitzenden Klasse gehört, scheint
nur heruntergekommen. Auch der gemeine Mann fühlt sich in Italien leicht
und frei. Um ein Geschäft zu machen, ist er über die Maßen höflich, kriecht
und schmeichelt; im selben Augenblick aber schnellt er wieder empor und dünkt sich
als freier und unabhängiger Mensch.

In den großen Massen des niedern Volkes und in seinem leicht geschürzten
Freiheitssinn besteht einer der stärksten Gegensätze zwischen Süditalien und
Deutschland. Denn was stellt bei uns sich dar als Kern und Boden der Na¬
tion? Der gebildete Mittelstand ist es. Er füllt unsere Städte, hat seit Jahr¬
hunderten beständig an Bedeutung gewonnen und zieht in den Kreis der bür¬
gerlichen Sitte und Geschäfte jetzt auch den Bauer auf seinem Hose, wie den
Adel auf seinen Schlössern. Dieser Mittelstand von solider Bildung und ge-
sicherteMjWohlstande ist bei uns in religiösen, socialen, politischen Dingen haupt¬
sächlich das Bestimmende. Eine Bewegung dagegen, welche in Süditalien von
Advocaten, Aerzten, Gelehrten und kleinen Gutsbesitzern und was man sonst
zum Mittelstande rechnen könnte, ausgeht, ist darum noch keine Volksbewegung.
Sie kann im ersten Augenblicke gelingen; ob sie aber Dauer und Erfolg hat,
das ist jedesmal ein Räthsel. Das hängt davon ab, ob Gefühl und Wille,
wie sie in der launenhaften Masse leben, damit übereinstimmt. Die große Politik
haben in Sicilien und Neapel noch immer entweder die Parteien in den höch¬
sten Kreisen gemacht, oder die tobenden Volkshaufen.

Wir hatten hier vorzüglich die zahlreichen Städte im Auge. Wie sieht es
auf dem Lande aus? Die Antwort liegt offen da: so wenig es in den Städten
einen stämmigen, wohlhäbigen Bürgerstand, so wenig giebt es aus dem Lande
einen tüchtigen Bauernstand. Das neapolitanische Land war von Natur durch
Gebirg und Meer in kleine Gebiete getheilt, in welchen Svnbergeist und städti¬
sches Leben, nicht aber breites gleichförmiges Landvolk sich ansiedelte. Dann
dehnte die mächtige Römerstadt allwärts ihr Wesen aus und verzehrte den freien
bäuerlichen Gutsbesitzer. Die römischen Herren schlugen Landgüter zusammen,
beherrschten alles, und das Volk bildete sich nach ihnen. Was aber später
von germanischer Gewöhnung über den Apennin kam, wurde von der uralten
Cultur des Landes wieder überwuchert. Die Sarazenengefahr, der Parteigeist,
der unaufhörliche Kleinkrieg im Mittelalter: alles nöthigte zum Wohnen in um¬
mauerten Orten. So wurde weithin städtische Bildung, städtisches Bedürfniß
verbreitet.


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[0349] zu Zeiten das Bedürfniß fühlte, sich mit Behagen nach Art und Sitte der nie¬ dern Classen zu ergehen. Und andrerseits verkehrt der Niedrige mit dem Höher¬ stehenden auf einem gewissen Gleichheitssuße. Da findet sich von dem demü¬ thigen Sinn unserer Arbeiter, von dem innerlich sich gebunden Fühlen unseres Gesindes keine Spur. In Italien will es uns bedünken, hat es niemals Hörige und Leibeigene gegeben: wer nicht zur besitzenden Klasse gehört, scheint nur heruntergekommen. Auch der gemeine Mann fühlt sich in Italien leicht und frei. Um ein Geschäft zu machen, ist er über die Maßen höflich, kriecht und schmeichelt; im selben Augenblick aber schnellt er wieder empor und dünkt sich als freier und unabhängiger Mensch. In den großen Massen des niedern Volkes und in seinem leicht geschürzten Freiheitssinn besteht einer der stärksten Gegensätze zwischen Süditalien und Deutschland. Denn was stellt bei uns sich dar als Kern und Boden der Na¬ tion? Der gebildete Mittelstand ist es. Er füllt unsere Städte, hat seit Jahr¬ hunderten beständig an Bedeutung gewonnen und zieht in den Kreis der bür¬ gerlichen Sitte und Geschäfte jetzt auch den Bauer auf seinem Hose, wie den Adel auf seinen Schlössern. Dieser Mittelstand von solider Bildung und ge- sicherteMjWohlstande ist bei uns in religiösen, socialen, politischen Dingen haupt¬ sächlich das Bestimmende. Eine Bewegung dagegen, welche in Süditalien von Advocaten, Aerzten, Gelehrten und kleinen Gutsbesitzern und was man sonst zum Mittelstande rechnen könnte, ausgeht, ist darum noch keine Volksbewegung. Sie kann im ersten Augenblicke gelingen; ob sie aber Dauer und Erfolg hat, das ist jedesmal ein Räthsel. Das hängt davon ab, ob Gefühl und Wille, wie sie in der launenhaften Masse leben, damit übereinstimmt. Die große Politik haben in Sicilien und Neapel noch immer entweder die Parteien in den höch¬ sten Kreisen gemacht, oder die tobenden Volkshaufen. Wir hatten hier vorzüglich die zahlreichen Städte im Auge. Wie sieht es auf dem Lande aus? Die Antwort liegt offen da: so wenig es in den Städten einen stämmigen, wohlhäbigen Bürgerstand, so wenig giebt es aus dem Lande einen tüchtigen Bauernstand. Das neapolitanische Land war von Natur durch Gebirg und Meer in kleine Gebiete getheilt, in welchen Svnbergeist und städti¬ sches Leben, nicht aber breites gleichförmiges Landvolk sich ansiedelte. Dann dehnte die mächtige Römerstadt allwärts ihr Wesen aus und verzehrte den freien bäuerlichen Gutsbesitzer. Die römischen Herren schlugen Landgüter zusammen, beherrschten alles, und das Volk bildete sich nach ihnen. Was aber später von germanischer Gewöhnung über den Apennin kam, wurde von der uralten Cultur des Landes wieder überwuchert. Die Sarazenengefahr, der Parteigeist, der unaufhörliche Kleinkrieg im Mittelalter: alles nöthigte zum Wohnen in um¬ mauerten Orten. So wurde weithin städtische Bildung, städtisches Bedürfniß verbreitet.

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 23, 1864, II. Semester. III. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341799_189094/349>, abgerufen am 28.09.2024.