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Die Grenzboten. Jg. 23, 1864, II. Semester. III. Band.

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des zur poetischen Vollendung heranwachsenden Stoffes. Erst von Schillers
Tel! ist des Künstlers und des Volkes Seele gleichmäßig erfüllt, so daß diese
Kunstgestalt in jedermanns Vorstellung schwebt und alle nun davon wissen
können, ob das Bild dem Wesen entspricht. Ja schon liest das Volk diesen
Tell nicht mehr als ein Product des willkürlich erschaffenden Dichtergeistes
Schillers, sondern als factische Geschichte, man liebt ihn nicht blos in jedem
Wort und Verse, man glaubt ihn wie eine historische Urkunde. "Der Glaube
ist des Wunders liebstes Kind."

Doch selbst zu dieser nun herrschenden Stimmung der Geister bedürfte es
gleichfalls noch einer dafür vorbereitenden Zeit. Nickt sogleich war Schillers Tell
ein Volksliebling. noch weniger ein Schoßkind der Kritik. Diese Reihe prächtiger
Erzählungen, epischer Standreden, schimmernder Episoden, an denen das Stück
reich ist, war unter Schillers Zeitgenossen nicht ganz vermögend, über andere
Mängel der Komposition hinwegsehen zu lassen. Manche von Schillers historischen
Dramen hatten sich in der Anlage des Stoffes motivirter erwiesen, gewandter
in der Durchführung, individueller in der Zeichnung der Charaktere. Daher
sagte damals der Brief eines Schweizers in der Monatsschrift Isis v. I. 1804
(Zürich. Erster Band 1806, 212). man habe Schillers Tell damals zwar nicht
ohne Beifall gesehen, aber doch hin und wieder etwas flüchtig gearbeitet ge¬
sunden; das Stück springe von Tell auf die Landesbefreiung über, von dieser
auf die Liebschaft zwischen Nudenz und Bertha, von Teils That auf den Kaiser-
mördcr Johann von Schwaben, beginnne lyrisch und schließe historisch nüchtern
wie ein Auszug aus Johannes Müller. Letzteres schien Schiller selbst noch
zuzugeben; bei der ersten Aufführung Teils zu Weimar, 17. März 1804, ließ
er den ganzen fünften Act weg und wollte also des Kaisermvrdes nicht mit
erwähnt wissen. Alle diese Mißstände der poetischen Komposition im Einzelnen
zugegeben, wie sich denn auch das allgemeine Urtheil der Literaturgeschichte
hierüber längst geeinigt hat, so haben sie doch nicht hingereicht, den ethi¬
schen Werth des Werkes zu vermindern. "Man kann," sagt Gervinus. "ästhe¬
tisch einen andern Tell und in einem Tone denken, der dem Naturalis¬
mus mehr schmeichelt; allein ich zweifle, ob die Schweizcrjugend einen solchen
mehr lieben würde, und ob Schillern ein kritischer Bewunderer lieber würde
gewesen sein, als ein patriotischer." Denn jugendfrischcr, dem Idealismus der
deutschen Jünglings- und Jungfrauennatur verwandter, mithin volksthümlicher
ist Schiller in keinem andern Stücke als im Tell. Hier bewegte ihn die
Idee mannhafter nationaler Freiheit noch einmal und kam unsrer eignen
Empfindung entgegengeeilt; er begeisterte sich an unsrer einmüthigen Zu¬
stimmung, wir uns an dem Adel und der moralischen Würde, die er unsrer
zustimmenden Erwartung lieh. Eben durch diese gegenseitige Uebereinstimmung
ist er ein Liebling aller demokratisch gesinnten Nationen, und die Lands-


des zur poetischen Vollendung heranwachsenden Stoffes. Erst von Schillers
Tel! ist des Künstlers und des Volkes Seele gleichmäßig erfüllt, so daß diese
Kunstgestalt in jedermanns Vorstellung schwebt und alle nun davon wissen
können, ob das Bild dem Wesen entspricht. Ja schon liest das Volk diesen
Tell nicht mehr als ein Product des willkürlich erschaffenden Dichtergeistes
Schillers, sondern als factische Geschichte, man liebt ihn nicht blos in jedem
Wort und Verse, man glaubt ihn wie eine historische Urkunde. „Der Glaube
ist des Wunders liebstes Kind."

Doch selbst zu dieser nun herrschenden Stimmung der Geister bedürfte es
gleichfalls noch einer dafür vorbereitenden Zeit. Nickt sogleich war Schillers Tell
ein Volksliebling. noch weniger ein Schoßkind der Kritik. Diese Reihe prächtiger
Erzählungen, epischer Standreden, schimmernder Episoden, an denen das Stück
reich ist, war unter Schillers Zeitgenossen nicht ganz vermögend, über andere
Mängel der Komposition hinwegsehen zu lassen. Manche von Schillers historischen
Dramen hatten sich in der Anlage des Stoffes motivirter erwiesen, gewandter
in der Durchführung, individueller in der Zeichnung der Charaktere. Daher
sagte damals der Brief eines Schweizers in der Monatsschrift Isis v. I. 1804
(Zürich. Erster Band 1806, 212). man habe Schillers Tell damals zwar nicht
ohne Beifall gesehen, aber doch hin und wieder etwas flüchtig gearbeitet ge¬
sunden; das Stück springe von Tell auf die Landesbefreiung über, von dieser
auf die Liebschaft zwischen Nudenz und Bertha, von Teils That auf den Kaiser-
mördcr Johann von Schwaben, beginnne lyrisch und schließe historisch nüchtern
wie ein Auszug aus Johannes Müller. Letzteres schien Schiller selbst noch
zuzugeben; bei der ersten Aufführung Teils zu Weimar, 17. März 1804, ließ
er den ganzen fünften Act weg und wollte also des Kaisermvrdes nicht mit
erwähnt wissen. Alle diese Mißstände der poetischen Komposition im Einzelnen
zugegeben, wie sich denn auch das allgemeine Urtheil der Literaturgeschichte
hierüber längst geeinigt hat, so haben sie doch nicht hingereicht, den ethi¬
schen Werth des Werkes zu vermindern. „Man kann," sagt Gervinus. „ästhe¬
tisch einen andern Tell und in einem Tone denken, der dem Naturalis¬
mus mehr schmeichelt; allein ich zweifle, ob die Schweizcrjugend einen solchen
mehr lieben würde, und ob Schillern ein kritischer Bewunderer lieber würde
gewesen sein, als ein patriotischer." Denn jugendfrischcr, dem Idealismus der
deutschen Jünglings- und Jungfrauennatur verwandter, mithin volksthümlicher
ist Schiller in keinem andern Stücke als im Tell. Hier bewegte ihn die
Idee mannhafter nationaler Freiheit noch einmal und kam unsrer eignen
Empfindung entgegengeeilt; er begeisterte sich an unsrer einmüthigen Zu¬
stimmung, wir uns an dem Adel und der moralischen Würde, die er unsrer
zustimmenden Erwartung lieh. Eben durch diese gegenseitige Uebereinstimmung
ist er ein Liebling aller demokratisch gesinnten Nationen, und die Lands-


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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 23, 1864, II. Semester. III. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341799_189094/278>, abgerufen am 28.09.2024.