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Die Grenzboten. Jg. 23, 1864, II. Semester. III. Band.

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die Oeffentlichkeit. Auch später wurde er wiederholt übersetzt, namentlich von
Bodmer, Bürde und Zachariä, er gab Anregung zu einer ganzen Anzahl von
religiösen Epen, zu Bodmers Noachide, zu Geßners Tod Abels, Wielands
Geprüftem Abraham und vor allem zu Klopstocks Messiade. Allein in demselben
Maße, in welchem die Kenntniß und Verehrung Shakespeares bei uns ge¬
wachsen ist, hat er verloren, und sicher nur sehr wenige Deutsche werden sich
jetzt noch rühmen können, ihn gelesen zu haben.

Wir folgen unsrer Schrift in das achtzehnte Jahrhundert, in welchem die
Einwirkung der englischen Literatur auf die deutsche weit größere Dimensionen
annimmt. Gleich an der Schwelle desselben begegnen wir den Robinsonaden,
in denen die Schwärmerei für den Naturzustand vorspukt, welche später von
Rousseau zur lichten Flamme angefacht wurde -- der erste der beiden Fälle,
wo bei uns der englische Einfluß dem französischen in die Hände arbeitete,
während sie sich sonst überall feindlich gegenüberstanden. Die erste Uebersetzung
des defoeschcn Werkes kam bereits im nächsten Jahre nach Erscheinen des
Originals, also 1720, zu Leipzig heraus und wurde noch in demselben Jahre
viermal neu ausgelegt. Ein wahres Robinson-Fieber brach in Deutschland aus,
welches trotz seines akuten Ehararters ein ganzes Menschenalter hindurch anhielt.
Nicht weniger als vierzig Nachahmungen variirten das Thema auf jede mögliche
Weise, und höchst auffallend und komisch ist. daß die hierin sich äußernde
Schwärmerei für Reisen und Abenteuer zur See sich vorzugsweise der deutschen
Binnenländer bemächtigte, und daß wir unter jenen Nachbildungen keinen
hamburgische" oder bremischen, überhaupt keinen seestädtischem, wohl aber einen
sächsischen, einen schlesischen, einen thüringischen, einen schwäbischen, branden¬
burgische", westphälischen, kurpfälzischen, fränkischen, einen leipziger und einen
Harz-Robinson finde". Auch die verschiedenen Stände und Religionen wollten
nicht leer ausgehen, und so entstanden ein geistlicher, ein medicinischer, ein
gelehrter, ja ein Buchhändler-Robinson, denen sich ein jüdischer und ein moralischer
beigesellten. Sogar ein weiblicher, und um der Sache die Krone aufzusetzen,
ein unsichtbarer Robinson wurde dem Publicum geboten. Welche Anerkennung
endlich sich der auf rvusseauschcn Ideen fußende campesche Robinson als
Jugendschrift erwarb, ist bekannt. Der zweite Fall, in welchem die englischen
Einwirkungen mit den französischen Hand in Hand gingen, betrifft Gottsched
und seine Schule, die besonders die französische Richtung in der englischen
Literatur schätzten. Gottsched begann mit einer Nachahmung des "spectator",
der seine Gattin unter seiner Beihilfe sogar eine Übersetzung desselben folgen ließ.
Für Shakespeare und andere specifisch englische Dichter fehlte Gottsched das
Verständniß, sein Studium der englischen Literatur fand schließlich seinen Aus¬
druck in den Übertragungen des addisonschen Cato und des Popeschen Locken¬
raubes sowie in seinem Originalstück "der sterbende Cato".


die Oeffentlichkeit. Auch später wurde er wiederholt übersetzt, namentlich von
Bodmer, Bürde und Zachariä, er gab Anregung zu einer ganzen Anzahl von
religiösen Epen, zu Bodmers Noachide, zu Geßners Tod Abels, Wielands
Geprüftem Abraham und vor allem zu Klopstocks Messiade. Allein in demselben
Maße, in welchem die Kenntniß und Verehrung Shakespeares bei uns ge¬
wachsen ist, hat er verloren, und sicher nur sehr wenige Deutsche werden sich
jetzt noch rühmen können, ihn gelesen zu haben.

Wir folgen unsrer Schrift in das achtzehnte Jahrhundert, in welchem die
Einwirkung der englischen Literatur auf die deutsche weit größere Dimensionen
annimmt. Gleich an der Schwelle desselben begegnen wir den Robinsonaden,
in denen die Schwärmerei für den Naturzustand vorspukt, welche später von
Rousseau zur lichten Flamme angefacht wurde — der erste der beiden Fälle,
wo bei uns der englische Einfluß dem französischen in die Hände arbeitete,
während sie sich sonst überall feindlich gegenüberstanden. Die erste Uebersetzung
des defoeschcn Werkes kam bereits im nächsten Jahre nach Erscheinen des
Originals, also 1720, zu Leipzig heraus und wurde noch in demselben Jahre
viermal neu ausgelegt. Ein wahres Robinson-Fieber brach in Deutschland aus,
welches trotz seines akuten Ehararters ein ganzes Menschenalter hindurch anhielt.
Nicht weniger als vierzig Nachahmungen variirten das Thema auf jede mögliche
Weise, und höchst auffallend und komisch ist. daß die hierin sich äußernde
Schwärmerei für Reisen und Abenteuer zur See sich vorzugsweise der deutschen
Binnenländer bemächtigte, und daß wir unter jenen Nachbildungen keinen
hamburgische» oder bremischen, überhaupt keinen seestädtischem, wohl aber einen
sächsischen, einen schlesischen, einen thüringischen, einen schwäbischen, branden¬
burgische», westphälischen, kurpfälzischen, fränkischen, einen leipziger und einen
Harz-Robinson finde». Auch die verschiedenen Stände und Religionen wollten
nicht leer ausgehen, und so entstanden ein geistlicher, ein medicinischer, ein
gelehrter, ja ein Buchhändler-Robinson, denen sich ein jüdischer und ein moralischer
beigesellten. Sogar ein weiblicher, und um der Sache die Krone aufzusetzen,
ein unsichtbarer Robinson wurde dem Publicum geboten. Welche Anerkennung
endlich sich der auf rvusseauschcn Ideen fußende campesche Robinson als
Jugendschrift erwarb, ist bekannt. Der zweite Fall, in welchem die englischen
Einwirkungen mit den französischen Hand in Hand gingen, betrifft Gottsched
und seine Schule, die besonders die französische Richtung in der englischen
Literatur schätzten. Gottsched begann mit einer Nachahmung des „spectator",
der seine Gattin unter seiner Beihilfe sogar eine Übersetzung desselben folgen ließ.
Für Shakespeare und andere specifisch englische Dichter fehlte Gottsched das
Verständniß, sein Studium der englischen Literatur fand schließlich seinen Aus¬
druck in den Übertragungen des addisonschen Cato und des Popeschen Locken¬
raubes sowie in seinem Originalstück „der sterbende Cato".


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[0252] die Oeffentlichkeit. Auch später wurde er wiederholt übersetzt, namentlich von Bodmer, Bürde und Zachariä, er gab Anregung zu einer ganzen Anzahl von religiösen Epen, zu Bodmers Noachide, zu Geßners Tod Abels, Wielands Geprüftem Abraham und vor allem zu Klopstocks Messiade. Allein in demselben Maße, in welchem die Kenntniß und Verehrung Shakespeares bei uns ge¬ wachsen ist, hat er verloren, und sicher nur sehr wenige Deutsche werden sich jetzt noch rühmen können, ihn gelesen zu haben. Wir folgen unsrer Schrift in das achtzehnte Jahrhundert, in welchem die Einwirkung der englischen Literatur auf die deutsche weit größere Dimensionen annimmt. Gleich an der Schwelle desselben begegnen wir den Robinsonaden, in denen die Schwärmerei für den Naturzustand vorspukt, welche später von Rousseau zur lichten Flamme angefacht wurde — der erste der beiden Fälle, wo bei uns der englische Einfluß dem französischen in die Hände arbeitete, während sie sich sonst überall feindlich gegenüberstanden. Die erste Uebersetzung des defoeschcn Werkes kam bereits im nächsten Jahre nach Erscheinen des Originals, also 1720, zu Leipzig heraus und wurde noch in demselben Jahre viermal neu ausgelegt. Ein wahres Robinson-Fieber brach in Deutschland aus, welches trotz seines akuten Ehararters ein ganzes Menschenalter hindurch anhielt. Nicht weniger als vierzig Nachahmungen variirten das Thema auf jede mögliche Weise, und höchst auffallend und komisch ist. daß die hierin sich äußernde Schwärmerei für Reisen und Abenteuer zur See sich vorzugsweise der deutschen Binnenländer bemächtigte, und daß wir unter jenen Nachbildungen keinen hamburgische» oder bremischen, überhaupt keinen seestädtischem, wohl aber einen sächsischen, einen schlesischen, einen thüringischen, einen schwäbischen, branden¬ burgische», westphälischen, kurpfälzischen, fränkischen, einen leipziger und einen Harz-Robinson finde». Auch die verschiedenen Stände und Religionen wollten nicht leer ausgehen, und so entstanden ein geistlicher, ein medicinischer, ein gelehrter, ja ein Buchhändler-Robinson, denen sich ein jüdischer und ein moralischer beigesellten. Sogar ein weiblicher, und um der Sache die Krone aufzusetzen, ein unsichtbarer Robinson wurde dem Publicum geboten. Welche Anerkennung endlich sich der auf rvusseauschcn Ideen fußende campesche Robinson als Jugendschrift erwarb, ist bekannt. Der zweite Fall, in welchem die englischen Einwirkungen mit den französischen Hand in Hand gingen, betrifft Gottsched und seine Schule, die besonders die französische Richtung in der englischen Literatur schätzten. Gottsched begann mit einer Nachahmung des „spectator", der seine Gattin unter seiner Beihilfe sogar eine Übersetzung desselben folgen ließ. Für Shakespeare und andere specifisch englische Dichter fehlte Gottsched das Verständniß, sein Studium der englischen Literatur fand schließlich seinen Aus¬ druck in den Übertragungen des addisonschen Cato und des Popeschen Locken¬ raubes sowie in seinem Originalstück „der sterbende Cato".

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 23, 1864, II. Semester. III. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341799_189094/252>, abgerufen am 28.09.2024.