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Die Grenzboten. Jg. 23, 1864, II. Semester. III. Band.

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spiel um die Altäre zu tanzen und ein eigens compouirtes jüdisches Opferlied
zu singen, wahrscheinlich zur Verspottung des Judenthums, wobei folgende
geistreiche Strophe mit vorkommt:

Während dem ging das Wunder des Mannaregens vor sich, rüden man
aus den Estricken der Häuser 800 Küchlein und 20,000 Himmelsbrodpartikel
(Oblaten) auf das zuschauende Straßenpublicum herunterwarf.

Daß auch das Schauspiel der reformirten Schweiz gleicherweise in
den Händen der Collegiatgeistlichkeit und ihrer Schüler war, und um nichts
besser beschaffen, lehrt ein Vorgang zu Bern. Dort gaben 1692 die berner
Studenten unter Anleitung ihrer geistlichen Professoren ein allegorisches Stück,
worin Ludwig der Vierzehnte von Frankreich als Charaktermaske auftritt, mit
seinen Dragonern und Jesuiten gegen die Hugenotten wüthet, die dann von
König Wilhelm von England beschirmt werden. Auf die .Klage des französischen
Gesandten Ameive entschuldigte sich die Negierung, es sei jüngsthin auch zu
Freiburg im Uechtland König Wilhelm von England als Vatermörder öffentlich
gespielt und das Stück in den Kauf gegeben worden. Nach dieser Ausrede
prozessirtc man gleichwohl "die Geistlichen mit ihrem unbedachten blinden Eyffer
wegen dieser schändlichen Commedj oder vielmehr karee", strafte sie mit Gefan¬
genschaft und entzog ihren Komödienspielcn die Kirche.

In dem eben Entwickelten liegen die Gründe, warum ein neues Tellcn-
schauspiel in der Schweiz oder in Deutschland erst in sehr entfernter Zeit wieder
und uur unter einem gänzlich veränderten Zeitgeschmack hervorgebracht werden
konnte. Erst mußte die alte Gattung unsrer Volksschauspiele und Komödien
an ihrem eignen Mißbrauch absterben; erst mußte dann das Schuldrama uns
langsam zur Ncgelhaftigkeit der französischen Bühne hinübergeleitet haben; eine
Stadt, auf der deutsch-welschen Sprachgrenze liegend, wie Bern oder Neuenburg,
mußte ihr Bürgergeschlecht an französischer Sprache und Literatur erst auf¬
geschult, zugleich aber auch zur verwegensten Opposition gegen die einheimische
Despotie großgezogen haben, damit beim Eintritt der neuen Weltereignisse die
deutsche Schaubühne wieder erwachen, den nationalen Gehalt des Tellenstoffes neu
empfinden und zu künstlerischer Darstellung frisch aufnehmen konnte. Bern und
Neuenburg sind daher wirklich die beiden Städte der Schweiz, in denen nach langer
Pause Wilhelm Tell neuerdings seine dramatischen Bearbeiter findet. Henzi und
Mierre werfen daselbst diesem Stoffe das Costüm der französischen Komödie um.


spiel um die Altäre zu tanzen und ein eigens compouirtes jüdisches Opferlied
zu singen, wahrscheinlich zur Verspottung des Judenthums, wobei folgende
geistreiche Strophe mit vorkommt:

Während dem ging das Wunder des Mannaregens vor sich, rüden man
aus den Estricken der Häuser 800 Küchlein und 20,000 Himmelsbrodpartikel
(Oblaten) auf das zuschauende Straßenpublicum herunterwarf.

Daß auch das Schauspiel der reformirten Schweiz gleicherweise in
den Händen der Collegiatgeistlichkeit und ihrer Schüler war, und um nichts
besser beschaffen, lehrt ein Vorgang zu Bern. Dort gaben 1692 die berner
Studenten unter Anleitung ihrer geistlichen Professoren ein allegorisches Stück,
worin Ludwig der Vierzehnte von Frankreich als Charaktermaske auftritt, mit
seinen Dragonern und Jesuiten gegen die Hugenotten wüthet, die dann von
König Wilhelm von England beschirmt werden. Auf die .Klage des französischen
Gesandten Ameive entschuldigte sich die Negierung, es sei jüngsthin auch zu
Freiburg im Uechtland König Wilhelm von England als Vatermörder öffentlich
gespielt und das Stück in den Kauf gegeben worden. Nach dieser Ausrede
prozessirtc man gleichwohl „die Geistlichen mit ihrem unbedachten blinden Eyffer
wegen dieser schändlichen Commedj oder vielmehr karee", strafte sie mit Gefan¬
genschaft und entzog ihren Komödienspielcn die Kirche.

In dem eben Entwickelten liegen die Gründe, warum ein neues Tellcn-
schauspiel in der Schweiz oder in Deutschland erst in sehr entfernter Zeit wieder
und uur unter einem gänzlich veränderten Zeitgeschmack hervorgebracht werden
konnte. Erst mußte die alte Gattung unsrer Volksschauspiele und Komödien
an ihrem eignen Mißbrauch absterben; erst mußte dann das Schuldrama uns
langsam zur Ncgelhaftigkeit der französischen Bühne hinübergeleitet haben; eine
Stadt, auf der deutsch-welschen Sprachgrenze liegend, wie Bern oder Neuenburg,
mußte ihr Bürgergeschlecht an französischer Sprache und Literatur erst auf¬
geschult, zugleich aber auch zur verwegensten Opposition gegen die einheimische
Despotie großgezogen haben, damit beim Eintritt der neuen Weltereignisse die
deutsche Schaubühne wieder erwachen, den nationalen Gehalt des Tellenstoffes neu
empfinden und zu künstlerischer Darstellung frisch aufnehmen konnte. Bern und
Neuenburg sind daher wirklich die beiden Städte der Schweiz, in denen nach langer
Pause Wilhelm Tell neuerdings seine dramatischen Bearbeiter findet. Henzi und
Mierre werfen daselbst diesem Stoffe das Costüm der französischen Komödie um.


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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 23, 1864, II. Semester. III. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341799_189094/230>, abgerufen am 28.09.2024.