Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Die Grenzboten. Jg. 23, 1864, II. Semester. III. Band.

Bild:
<< vorherige Seite
Die Tellenschauspiele in der Schweiz vor Schiller. Bon
E. L. Rochholz.
Erster Abschnitt.

Uebersicht der politischen Zustände der Schweiz seit Ende des fünfzehnten Jahr¬
hunderts. -- Die damalige Volkspoesie. -- Das ältere Tcllcnlied und das Urnerspiel
über Wilhelm Tell.

Das Vorhandensein von Volksschauspielen über den Wilhelm Tell und
den Tellenschuß läßt sich in der Schweiz seit vierthalb Jahrhunderten nach¬
weisen. Der Fluß dieser Dichtung war aus dem Volksliede entsprungen, und erst
seitdem er durch Schillers Wilhelm Tell zum Stehen gebracht ist, hat das schwei¬
zerische Landvolk bei den jahreszeitlichen Festumzügen um Neujahr, Ostern und
Pfingsten aufgehört, Scenen aus jenem alten Tellenspiel aufzuführen, und sich
dagegen des Schillerschen Textes bemächtigt. Echte würdige Volkspoesie hat bei
dieser Umwandlung des Volksgeschmackes keine Einbuße erlitten. Denn der
Text des alten Tellenspicles war allmälig bis auf die allerletzten Schlagwörter
in Vergessenheit gerathen, die noch erinnerliche Scenenfolge wurde höchstens
als ein Nahmen benutzt, um alles Andere, Altes und Neues, gelegenheitlich
mit einzufügen. Man hat noch in den dreißiger Jahren zu Bern ein Zuschauer
solcher halb improvisierter Aufführungen sein können. Spielte man da um
Ostern oder Pfingsten in der dortigen Marktgasse und Kreuzgasse den Tell, so
ging dies vor allem nie ohne zwei gewaltige Theaterbären in Scene, die man
fälschlich für berner Wappenbären ansah, während sie ein Ueberrest jenes tra¬
ditionellen wilden Bären waren, der im mittelalterlichen Schauspiel die Ge¬
schwätzigkeit der zuschauenden Weiber und Kinder einschüchtern und geschweige"
mußte. Einer von jenen beiden erschien in weißem Pelze, d. h. in der dama¬
ligen Parteifarbe der eben ans Staatsruder gekommenen Weißen oder Radicalen,
der andere in schwarzem Pelze, also in der berner Standesfarbe; abwechselnd
tanzten sie vor dem Wohnhause eines Mitgliedes des neuen Regierungsrathes
oder eines aus dem Regiments abgetretenen Patriciers und singen da die paar


Grenzboten III. 1864. 16
Die Tellenschauspiele in der Schweiz vor Schiller. Bon
E. L. Rochholz.
Erster Abschnitt.

Uebersicht der politischen Zustände der Schweiz seit Ende des fünfzehnten Jahr¬
hunderts. — Die damalige Volkspoesie. — Das ältere Tcllcnlied und das Urnerspiel
über Wilhelm Tell.

Das Vorhandensein von Volksschauspielen über den Wilhelm Tell und
den Tellenschuß läßt sich in der Schweiz seit vierthalb Jahrhunderten nach¬
weisen. Der Fluß dieser Dichtung war aus dem Volksliede entsprungen, und erst
seitdem er durch Schillers Wilhelm Tell zum Stehen gebracht ist, hat das schwei¬
zerische Landvolk bei den jahreszeitlichen Festumzügen um Neujahr, Ostern und
Pfingsten aufgehört, Scenen aus jenem alten Tellenspiel aufzuführen, und sich
dagegen des Schillerschen Textes bemächtigt. Echte würdige Volkspoesie hat bei
dieser Umwandlung des Volksgeschmackes keine Einbuße erlitten. Denn der
Text des alten Tellenspicles war allmälig bis auf die allerletzten Schlagwörter
in Vergessenheit gerathen, die noch erinnerliche Scenenfolge wurde höchstens
als ein Nahmen benutzt, um alles Andere, Altes und Neues, gelegenheitlich
mit einzufügen. Man hat noch in den dreißiger Jahren zu Bern ein Zuschauer
solcher halb improvisierter Aufführungen sein können. Spielte man da um
Ostern oder Pfingsten in der dortigen Marktgasse und Kreuzgasse den Tell, so
ging dies vor allem nie ohne zwei gewaltige Theaterbären in Scene, die man
fälschlich für berner Wappenbären ansah, während sie ein Ueberrest jenes tra¬
ditionellen wilden Bären waren, der im mittelalterlichen Schauspiel die Ge¬
schwätzigkeit der zuschauenden Weiber und Kinder einschüchtern und geschweige»
mußte. Einer von jenen beiden erschien in weißem Pelze, d. h. in der dama¬
ligen Parteifarbe der eben ans Staatsruder gekommenen Weißen oder Radicalen,
der andere in schwarzem Pelze, also in der berner Standesfarbe; abwechselnd
tanzten sie vor dem Wohnhause eines Mitgliedes des neuen Regierungsrathes
oder eines aus dem Regiments abgetretenen Patriciers und singen da die paar


Grenzboten III. 1864. 16
<TEI>
  <text>
    <body>
      <div>
        <div n="1">
          <div n="2">
            <pb facs="#f0129" corresp="http://brema.suub.uni-bremen.de/grenzboten/periodical/pageview/189224"/>
          </div>
        </div>
        <div n="1">
          <head> Die Tellenschauspiele in der Schweiz vor Schiller. Bon<lb/><note type="byline"> E. L. Rochholz.</note><lb/>
Erster Abschnitt. </head><lb/>
          <note type="argument"> Uebersicht der politischen Zustände der Schweiz seit Ende des fünfzehnten Jahr¬<lb/>
hunderts. &#x2014; Die damalige Volkspoesie. &#x2014; Das ältere Tcllcnlied und das Urnerspiel<lb/>
über Wilhelm Tell.</note><lb/>
          <p xml:id="ID_410" next="#ID_411"> Das Vorhandensein von Volksschauspielen über den Wilhelm Tell und<lb/>
den Tellenschuß läßt sich in der Schweiz seit vierthalb Jahrhunderten nach¬<lb/>
weisen. Der Fluß dieser Dichtung war aus dem Volksliede entsprungen, und erst<lb/>
seitdem er durch Schillers Wilhelm Tell zum Stehen gebracht ist, hat das schwei¬<lb/>
zerische Landvolk bei den jahreszeitlichen Festumzügen um Neujahr, Ostern und<lb/>
Pfingsten aufgehört, Scenen aus jenem alten Tellenspiel aufzuführen, und sich<lb/>
dagegen des Schillerschen Textes bemächtigt. Echte würdige Volkspoesie hat bei<lb/>
dieser Umwandlung des Volksgeschmackes keine Einbuße erlitten. Denn der<lb/>
Text des alten Tellenspicles war allmälig bis auf die allerletzten Schlagwörter<lb/>
in Vergessenheit gerathen, die noch erinnerliche Scenenfolge wurde höchstens<lb/>
als ein Nahmen benutzt, um alles Andere, Altes und Neues, gelegenheitlich<lb/>
mit einzufügen. Man hat noch in den dreißiger Jahren zu Bern ein Zuschauer<lb/>
solcher halb improvisierter Aufführungen sein können. Spielte man da um<lb/>
Ostern oder Pfingsten in der dortigen Marktgasse und Kreuzgasse den Tell, so<lb/>
ging dies vor allem nie ohne zwei gewaltige Theaterbären in Scene, die man<lb/>
fälschlich für berner Wappenbären ansah, während sie ein Ueberrest jenes tra¬<lb/>
ditionellen wilden Bären waren, der im mittelalterlichen Schauspiel die Ge¬<lb/>
schwätzigkeit der zuschauenden Weiber und Kinder einschüchtern und geschweige»<lb/>
mußte. Einer von jenen beiden erschien in weißem Pelze, d. h. in der dama¬<lb/>
ligen Parteifarbe der eben ans Staatsruder gekommenen Weißen oder Radicalen,<lb/>
der andere in schwarzem Pelze, also in der berner Standesfarbe; abwechselnd<lb/>
tanzten sie vor dem Wohnhause eines Mitgliedes des neuen Regierungsrathes<lb/>
oder eines aus dem Regiments abgetretenen Patriciers und singen da die paar</p><lb/>
          <fw type="sig" place="bottom"> Grenzboten III. 1864. 16</fw><lb/>
        </div>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[0129] Die Tellenschauspiele in der Schweiz vor Schiller. Bon E. L. Rochholz. Erster Abschnitt. Uebersicht der politischen Zustände der Schweiz seit Ende des fünfzehnten Jahr¬ hunderts. — Die damalige Volkspoesie. — Das ältere Tcllcnlied und das Urnerspiel über Wilhelm Tell. Das Vorhandensein von Volksschauspielen über den Wilhelm Tell und den Tellenschuß läßt sich in der Schweiz seit vierthalb Jahrhunderten nach¬ weisen. Der Fluß dieser Dichtung war aus dem Volksliede entsprungen, und erst seitdem er durch Schillers Wilhelm Tell zum Stehen gebracht ist, hat das schwei¬ zerische Landvolk bei den jahreszeitlichen Festumzügen um Neujahr, Ostern und Pfingsten aufgehört, Scenen aus jenem alten Tellenspiel aufzuführen, und sich dagegen des Schillerschen Textes bemächtigt. Echte würdige Volkspoesie hat bei dieser Umwandlung des Volksgeschmackes keine Einbuße erlitten. Denn der Text des alten Tellenspicles war allmälig bis auf die allerletzten Schlagwörter in Vergessenheit gerathen, die noch erinnerliche Scenenfolge wurde höchstens als ein Nahmen benutzt, um alles Andere, Altes und Neues, gelegenheitlich mit einzufügen. Man hat noch in den dreißiger Jahren zu Bern ein Zuschauer solcher halb improvisierter Aufführungen sein können. Spielte man da um Ostern oder Pfingsten in der dortigen Marktgasse und Kreuzgasse den Tell, so ging dies vor allem nie ohne zwei gewaltige Theaterbären in Scene, die man fälschlich für berner Wappenbären ansah, während sie ein Ueberrest jenes tra¬ ditionellen wilden Bären waren, der im mittelalterlichen Schauspiel die Ge¬ schwätzigkeit der zuschauenden Weiber und Kinder einschüchtern und geschweige» mußte. Einer von jenen beiden erschien in weißem Pelze, d. h. in der dama¬ ligen Parteifarbe der eben ans Staatsruder gekommenen Weißen oder Radicalen, der andere in schwarzem Pelze, also in der berner Standesfarbe; abwechselnd tanzten sie vor dem Wohnhause eines Mitgliedes des neuen Regierungsrathes oder eines aus dem Regiments abgetretenen Patriciers und singen da die paar Grenzboten III. 1864. 16

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde im Rahmen des Moduls DTA-Erweiterungen (DTAE) digitalisiert. Weitere Informationen …

Staats- und Universitätsbibliothek (SuUB) Bremen: Bereitstellung der Texttranskription.
Kay-Michael Würzner: Bearbeitung der digitalen Edition.

Weitere Informationen:

Verfahren der Texterfassung: OCR mit Nachkorrektur.

Bogensignaturen: gekennzeichnet;Druckfehler: ignoriert;fremdsprachliches Material: nicht gekennzeichnet;Geminations-/Abkürzungsstriche: wie Vorlage;Hervorhebungen (Antiqua, Sperrschrift, Kursive etc.): nicht ausgezeichnet;i/j in Fraktur: wie Vorlage;I/J in Fraktur: wie Vorlage;Kolumnentitel: gekennzeichnet;Kustoden: gekennzeichnet;langes s (ſ): als s transkribiert;Normalisierungen: stillschweigend;rundes r (&#xa75b;): als r/et transkribiert;Seitenumbrüche markiert: ja;Silbentrennung: wie Vorlage;u/v bzw. U/V: wie Vorlage;Vokale mit übergest. e: als ä/ö/ü transkribiert;Vollständigkeit: vollständig erfasst;Zeichensetzung: wie Vorlage;Zeilenumbrüche markiert: ja;

Nachkorrektur erfolgte automatisch.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341799_189094
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341799_189094/129
Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 23, 1864, II. Semester. III. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341799_189094/129>, abgerufen am 28.09.2024.