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Die Grenzboten. Jg. 23, 1864, I. Semester. II. Band.

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eingestehen mußte. Ausgenommen wurde diese Hypothese von Bruno Bauer,
der inzwischen von der orthodoxen Seite der Hegelianer zur äußersten Linken
übergesprungen war und durch solchen gelungenen Sprung sich die Fertigkeit
erwarb, nachmals mit gleichen Füßen wieder ins Kreuzzeitungslager überzu¬
setzen. Es ist komisch anzusehen, wie Bauer, der noch kurz zuvor die über¬
natürliche Erzeugung Jesu gegen Strauß vertheidigt hatte, jetzt den nüchternen
Kritiker vornehm über die Achsel ansah, weil er auf halbem Wege stehen ge¬
blieben sei und noch tief in der Transscendenz stecke. Denn es sei gleichgiltig,
ob man sage, die biblischen Schriften seien inspirirt, oder sie seien in der
Tradition entstanden; beides sei transscendent, beides beeinträchtige die Freiheit
des Individuums. Vielmehr rein aus dem Selbstbewußtsein der Schriftsteller
heraus seien die Evangelien geschrieben, und da nun ausdrücklich von allen
historischen Bedingungen abgesehen wird, so ist dieses "unendliche, absolute
Selbstbewußtsein", -- seine Formeln hatte der Hegelianer nicht dahinten gelassen
-- nichts als die baare Willkür, und in der That aus reiner Willkür, aus
Aberglauben, Gedankenlosigkeit, absichtlicher Uebertreibung soll der ganze Inhalt
der Evangelien zusammengesetzt sein. Es setzt dem Ganzen die Krone auf, wenn
Bauer in der affectirter Wissenschaftlichkeit noch die Miene annimmt, als sei
selbst die Existenz eines Mannes mit Namen Jesus zweifelhaft.

Gleichzeitig mit Wilcke war auch Weiße auf dle Hypothese des Urevcmge-
listen Marcus gekommen. Damit sollte wenigstens ein sicherer historischer An¬
haltspunkt gegeben sein. Denn im Uevrigen gab Weiße die evangelische Er¬
zählung ziemlich preis. Er erklärte selbst, in den negativen Resultaten wesent¬
lich mit Strauß einverstanden zu sein, und wollte nur zu dem Negativen die
positive Ergänzung hurzufügen. Matthäus, Lucas und auch Johannes kommen
als reflecrirte, cvmpilatorische Arbeiten übel weg. Aber selbst aus Marcus
muß er eine Reihe von Zügen entfernen, um ihm den Werth einer historischen
Quelle zu vindiciren. Bor allem die eigentlichen Mirakel, die eine Durch¬
brechung der Naturgesetze wären, und die nach Weiße alle mißverständlich aus
Jesu Gleichnißrcden entstanden sein sollen. Dagegen wird auf die Heilkraft
Jesu ein besonderes Gewicht gelegt; sie war ein angebornes Talent, von
welchem Jesus täglich Anwendung machte, und zwar wirb es näher als eine
magnetische Wundergabc bezeichnet, die ihm vermöge seiner weltgeschichtlichen
Stellung vor allen übrigen Sterblichen verliehen gewesen sei. Diese magnetische
Gabe wird auch dazu benutzt, um den Glauben der Jünger an die Auferstehung,
die als Thatsache gleichfalls beseitigt wird, erklärlich zu machen. Als abgeschic.
derer Geist sei nämlich Jesus in den Erscheinungen der Jünger wirklich gegen¬
wärtig gewesen; es sei ihm das Vermögen eigen gewesen, auch nach seinem Tode
noch auf seine Jünger und einzelne Andere, die körperlich und geistig dazu dis-
ponirt waren, magisch einzuwirken. Man sieht an diesem Gespcnstcrspuk, daß Weiße


eingestehen mußte. Ausgenommen wurde diese Hypothese von Bruno Bauer,
der inzwischen von der orthodoxen Seite der Hegelianer zur äußersten Linken
übergesprungen war und durch solchen gelungenen Sprung sich die Fertigkeit
erwarb, nachmals mit gleichen Füßen wieder ins Kreuzzeitungslager überzu¬
setzen. Es ist komisch anzusehen, wie Bauer, der noch kurz zuvor die über¬
natürliche Erzeugung Jesu gegen Strauß vertheidigt hatte, jetzt den nüchternen
Kritiker vornehm über die Achsel ansah, weil er auf halbem Wege stehen ge¬
blieben sei und noch tief in der Transscendenz stecke. Denn es sei gleichgiltig,
ob man sage, die biblischen Schriften seien inspirirt, oder sie seien in der
Tradition entstanden; beides sei transscendent, beides beeinträchtige die Freiheit
des Individuums. Vielmehr rein aus dem Selbstbewußtsein der Schriftsteller
heraus seien die Evangelien geschrieben, und da nun ausdrücklich von allen
historischen Bedingungen abgesehen wird, so ist dieses „unendliche, absolute
Selbstbewußtsein", — seine Formeln hatte der Hegelianer nicht dahinten gelassen
— nichts als die baare Willkür, und in der That aus reiner Willkür, aus
Aberglauben, Gedankenlosigkeit, absichtlicher Uebertreibung soll der ganze Inhalt
der Evangelien zusammengesetzt sein. Es setzt dem Ganzen die Krone auf, wenn
Bauer in der affectirter Wissenschaftlichkeit noch die Miene annimmt, als sei
selbst die Existenz eines Mannes mit Namen Jesus zweifelhaft.

Gleichzeitig mit Wilcke war auch Weiße auf dle Hypothese des Urevcmge-
listen Marcus gekommen. Damit sollte wenigstens ein sicherer historischer An¬
haltspunkt gegeben sein. Denn im Uevrigen gab Weiße die evangelische Er¬
zählung ziemlich preis. Er erklärte selbst, in den negativen Resultaten wesent¬
lich mit Strauß einverstanden zu sein, und wollte nur zu dem Negativen die
positive Ergänzung hurzufügen. Matthäus, Lucas und auch Johannes kommen
als reflecrirte, cvmpilatorische Arbeiten übel weg. Aber selbst aus Marcus
muß er eine Reihe von Zügen entfernen, um ihm den Werth einer historischen
Quelle zu vindiciren. Bor allem die eigentlichen Mirakel, die eine Durch¬
brechung der Naturgesetze wären, und die nach Weiße alle mißverständlich aus
Jesu Gleichnißrcden entstanden sein sollen. Dagegen wird auf die Heilkraft
Jesu ein besonderes Gewicht gelegt; sie war ein angebornes Talent, von
welchem Jesus täglich Anwendung machte, und zwar wirb es näher als eine
magnetische Wundergabc bezeichnet, die ihm vermöge seiner weltgeschichtlichen
Stellung vor allen übrigen Sterblichen verliehen gewesen sei. Diese magnetische
Gabe wird auch dazu benutzt, um den Glauben der Jünger an die Auferstehung,
die als Thatsache gleichfalls beseitigt wird, erklärlich zu machen. Als abgeschic.
derer Geist sei nämlich Jesus in den Erscheinungen der Jünger wirklich gegen¬
wärtig gewesen; es sei ihm das Vermögen eigen gewesen, auch nach seinem Tode
noch auf seine Jünger und einzelne Andere, die körperlich und geistig dazu dis-
ponirt waren, magisch einzuwirken. Man sieht an diesem Gespcnstcrspuk, daß Weiße


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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 23, 1864, I. Semester. II. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341799_188560/95>, abgerufen am 25.08.2024.