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Die Grenzboten. Jg. 23, 1864, I. Semester. II. Band.

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stehen, in denen das Zusammentreffen natürlicher Begabung mit freier Selbst¬
bestimmung ungewöhnliche Kräfte zum Dasein und zur Reife bringt, mittelst
welcher sie auf Mit- und Nachwelt schöpferisch bestimmend einwirken. Ist auf
solche Weise Christus zunächst unter die profane Kategorie des Genius gestellt,
so werden dann die verschiedenen Fächer unterschieden, in welche das geistige
Leben der Menschheit sich auseinanderlegt, wobei dann, indem das religiöse
Gebiet als das centralste und innerlichste von allen aufgezeigt ward, für Jesus
eine Stelle ausgemittelt wurde, die ihn einerseits im Kreese des wahrhaft Mensch¬
lichen hält, andrerseits aber innerhalb dieses Kreises ihm diejenige Stelle an¬
weist, wo Göttliches und Menschliches am unmittelbarsten ineinandergreifen.
Als Stifter der absoluten Religion überragt Jesus alle übrigen Religions--
stifter so weit, daß ein Hinausgehen über ihn für alle Zukunft undenkbar ist.
Denn in ihm ist die Einheit des Menschlichen und Göttlichen zuerst in das
Selbstbewußtsein getreten, und zugleich in so schöpferischer Urträftigkeit, daß
jeder Nachfolgende nur aus dieser Lebensquelle schöpfen kann. So wenig also
die Menschheit jemals ohne Religion sein wird, so wenig wird sie je ohne
Christus sein. Bleibt uns aber Christus, und bleibt er uns als das Höchste,
was wir in religiöser Beziehung kennen und zu denken vermögen, als derjenige,
ohne dessen Gegenwart im Gemüthe keine vollkommene Frömmigkeit möglich
ist; nun so bleibt uns in ihm doch wohl das Wesentliche des Christenthums.

Die wichtigste Berichtigung und Ergänzung zu seinem Leben Jesu hatte
somit Strauß selbst in diesen Monologen gegeben, welche als "friedliche
Blätter" zugleich den Streit in seinem damaligen Stadium abschlossen. Aber
dieser ganze Streit war selbst nur die Einleitung zu der wissenschaftlichen
Bewegung, die sich nun an das Leben Jesu knüpfte. Eine eigentlich wissen¬
schaftliche Förderung konnte der Gegenstand nur von einer genaueren Unter¬
suchung der Quellenschriften gewinnen. Ob man den Begriff des Mythischen
so oder anders bestimmte, von den Wundern die einen natürlich erklärte, die
andern abschwächte, den Jnspirationsbegriff strenger oder laxer faßte, hier der
Kritik ein Zugeständniß machte, ein anderes verweigerte, kam am Ende ganz
auf subjective Gründe hinaus. Erst wenn man bestimmte Anhaltpunkte für
die Entstehung der Evangelien und für ihr gegenseitiges Verhältniß gewonnen
hatte, ließ sich beurtheilen, mit welchem Rechte Strauß das Ganze der evange¬
lischen Geschichte als mythisch aufgelöst hatte. Aber auch nachdem in dieser
Weise die Aufgabe gefaßt war, kam man im Anfang noch nicht über Hypo¬
thesen hinaus. In einem gelehrten schwerfälligen Werke stellte Wilcke die An¬
sicht auf, daß Marcus, dessen Inhalt bekanntlich bis auf wenige Stücke ganz
in dem der beiden andern Synoptiker aufgeht, als der Urevangelist zu betrachten
sei. eine Hypothese, die jedoch durch die Annahme, zu der sie genöthigt war.
daß doch nicht unser jetziger Marcus der Urmarcus sei, ihre eigene Schwäche


stehen, in denen das Zusammentreffen natürlicher Begabung mit freier Selbst¬
bestimmung ungewöhnliche Kräfte zum Dasein und zur Reife bringt, mittelst
welcher sie auf Mit- und Nachwelt schöpferisch bestimmend einwirken. Ist auf
solche Weise Christus zunächst unter die profane Kategorie des Genius gestellt,
so werden dann die verschiedenen Fächer unterschieden, in welche das geistige
Leben der Menschheit sich auseinanderlegt, wobei dann, indem das religiöse
Gebiet als das centralste und innerlichste von allen aufgezeigt ward, für Jesus
eine Stelle ausgemittelt wurde, die ihn einerseits im Kreese des wahrhaft Mensch¬
lichen hält, andrerseits aber innerhalb dieses Kreises ihm diejenige Stelle an¬
weist, wo Göttliches und Menschliches am unmittelbarsten ineinandergreifen.
Als Stifter der absoluten Religion überragt Jesus alle übrigen Religions--
stifter so weit, daß ein Hinausgehen über ihn für alle Zukunft undenkbar ist.
Denn in ihm ist die Einheit des Menschlichen und Göttlichen zuerst in das
Selbstbewußtsein getreten, und zugleich in so schöpferischer Urträftigkeit, daß
jeder Nachfolgende nur aus dieser Lebensquelle schöpfen kann. So wenig also
die Menschheit jemals ohne Religion sein wird, so wenig wird sie je ohne
Christus sein. Bleibt uns aber Christus, und bleibt er uns als das Höchste,
was wir in religiöser Beziehung kennen und zu denken vermögen, als derjenige,
ohne dessen Gegenwart im Gemüthe keine vollkommene Frömmigkeit möglich
ist; nun so bleibt uns in ihm doch wohl das Wesentliche des Christenthums.

Die wichtigste Berichtigung und Ergänzung zu seinem Leben Jesu hatte
somit Strauß selbst in diesen Monologen gegeben, welche als „friedliche
Blätter" zugleich den Streit in seinem damaligen Stadium abschlossen. Aber
dieser ganze Streit war selbst nur die Einleitung zu der wissenschaftlichen
Bewegung, die sich nun an das Leben Jesu knüpfte. Eine eigentlich wissen¬
schaftliche Förderung konnte der Gegenstand nur von einer genaueren Unter¬
suchung der Quellenschriften gewinnen. Ob man den Begriff des Mythischen
so oder anders bestimmte, von den Wundern die einen natürlich erklärte, die
andern abschwächte, den Jnspirationsbegriff strenger oder laxer faßte, hier der
Kritik ein Zugeständniß machte, ein anderes verweigerte, kam am Ende ganz
auf subjective Gründe hinaus. Erst wenn man bestimmte Anhaltpunkte für
die Entstehung der Evangelien und für ihr gegenseitiges Verhältniß gewonnen
hatte, ließ sich beurtheilen, mit welchem Rechte Strauß das Ganze der evange¬
lischen Geschichte als mythisch aufgelöst hatte. Aber auch nachdem in dieser
Weise die Aufgabe gefaßt war, kam man im Anfang noch nicht über Hypo¬
thesen hinaus. In einem gelehrten schwerfälligen Werke stellte Wilcke die An¬
sicht auf, daß Marcus, dessen Inhalt bekanntlich bis auf wenige Stücke ganz
in dem der beiden andern Synoptiker aufgeht, als der Urevangelist zu betrachten
sei. eine Hypothese, die jedoch durch die Annahme, zu der sie genöthigt war.
daß doch nicht unser jetziger Marcus der Urmarcus sei, ihre eigene Schwäche


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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 23, 1864, I. Semester. II. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341799_188560/94>, abgerufen am 25.08.2024.