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Die Grenzboten. Jg. 23, 1864, I. Semester. II. Band.

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möchte, aber nicht mehr glauben kann, welche denken möchte, aber sich den ein¬
fachsten Konsequenzen des Denkens scheu entzieht. In Zeiten, wo ein Neues
hereinbricht und siegreich das Alte verdrängt, werden jedesmal Versuche auftauchen,
welche, ohne sich dem Neuen ganz verschließen zu können, zugleich so fest als
möglich sich an das Alte klammern. Ein Denkmal solchen Uebergangszustands
ist diese sogenannte VermittlungstKeologie, welche mit der einen Fußspitze auf
dem alten Dogma, mit der andern auf der modernen Wissenschaft steht und
mit ihren angestrengten Balancirvcrsuchen eben nur beweist, daß sie allen festen
Halt unter sich verloren hat.

Der gewöhnlichste Borwurf gegen Strauß war, daß er die Bedeutung der
Persönlichkeit für das geschichtliche Leben verkannt habe. Die Thatsache der
christlichen Kirche, versuchte Ullmann zu zeigen, sei der sprechendste Beweis gegen
jeden Versuch, ihren Anfang in Mythen aufzulösen. Entweder, so spitzte er
das Dilemma zu, ist Christus von der apostolischen Kirche ersonnen oder die
Kirche von ihm gebildet; entweder ist die Kirche Christus dichtend oder Christus
Kirche bildend gewesen. Jene Annahme ist unbegreiflich, für diese spricht die
Analogie aller Geschichte. Denn wenn auch die Einheit Gottes und des Men¬
schen nicht allein in einem Punkte sich entwickelte, sondern in der ganzen Mensch¬
heit, so findet sie doch ihren Gipfelpunkt, ihre geschichtliche Vollendung in
dem Einen, dem Urbild des wahren Lebens in Gott. Die Kirche muß ein
lebendiges Haupt haben, um ein Organismus zu sein und dieses Haupt ist
Christus. Aehnliches findet auch auf anderen Gebieten des geistigen Lebens
statt. Auch in der Kunst erscheinen von Zeit zu Zeit höbe Genien, in denen
sich ihre ganze Kraft und Schönheit verkörpert, und fast für jede Kunst giebt
es Einen, der eine solche Verkörperung darstellt, so Homer. Sophokles.
Dante. Shakespeare. Rafael, Händel u. s. w., Genien, in welchen in der That
die Fülle der Idee in ein Exemplar ausgegossen erscheint. -

Hatte Ullmann hiermit wenigstens vergleichweise den Begriff des Genius
herbeigezogen, so nahm Strauß seinen Gegner beim Wort, indem er mit diesem
Begriff Ernst machte und Jesus die Stelle eines religiösen Genius anwies?
was er in einer eigenen Schrift: "Vergängliches und Bleibendes im Christen¬
thum" noch näher ausführte. Strauß beabsichtigte mit diesen Monologen eine
Art Gegenstücks zu seinen Streitschriften. Im Bewußtsein, daß sein erstes
Werk wesentlich negativ gewesen, will er genauer nachsehen, ob außer jenem
philosophischen Rest in der Schiußabhandlung aus dem Leben Jesu nichts
übrig bleibe, was noch einen Werth habe für das religiöse Bedürfniß der Gegen¬
wart. Vom jetzigen Standpunkt des Bewußtseins aus soll die religiöse Be¬
deutung der geschichtlichen Persönlichkeit Jesu festgestellt werden. Zu diesem
Zweck wird der Anfang des Christenthums betrachtet als einer jener Knoten¬
punkte der Geschichte, jener Höhen der Menschheit, auf welchen die Individuen


möchte, aber nicht mehr glauben kann, welche denken möchte, aber sich den ein¬
fachsten Konsequenzen des Denkens scheu entzieht. In Zeiten, wo ein Neues
hereinbricht und siegreich das Alte verdrängt, werden jedesmal Versuche auftauchen,
welche, ohne sich dem Neuen ganz verschließen zu können, zugleich so fest als
möglich sich an das Alte klammern. Ein Denkmal solchen Uebergangszustands
ist diese sogenannte VermittlungstKeologie, welche mit der einen Fußspitze auf
dem alten Dogma, mit der andern auf der modernen Wissenschaft steht und
mit ihren angestrengten Balancirvcrsuchen eben nur beweist, daß sie allen festen
Halt unter sich verloren hat.

Der gewöhnlichste Borwurf gegen Strauß war, daß er die Bedeutung der
Persönlichkeit für das geschichtliche Leben verkannt habe. Die Thatsache der
christlichen Kirche, versuchte Ullmann zu zeigen, sei der sprechendste Beweis gegen
jeden Versuch, ihren Anfang in Mythen aufzulösen. Entweder, so spitzte er
das Dilemma zu, ist Christus von der apostolischen Kirche ersonnen oder die
Kirche von ihm gebildet; entweder ist die Kirche Christus dichtend oder Christus
Kirche bildend gewesen. Jene Annahme ist unbegreiflich, für diese spricht die
Analogie aller Geschichte. Denn wenn auch die Einheit Gottes und des Men¬
schen nicht allein in einem Punkte sich entwickelte, sondern in der ganzen Mensch¬
heit, so findet sie doch ihren Gipfelpunkt, ihre geschichtliche Vollendung in
dem Einen, dem Urbild des wahren Lebens in Gott. Die Kirche muß ein
lebendiges Haupt haben, um ein Organismus zu sein und dieses Haupt ist
Christus. Aehnliches findet auch auf anderen Gebieten des geistigen Lebens
statt. Auch in der Kunst erscheinen von Zeit zu Zeit höbe Genien, in denen
sich ihre ganze Kraft und Schönheit verkörpert, und fast für jede Kunst giebt
es Einen, der eine solche Verkörperung darstellt, so Homer. Sophokles.
Dante. Shakespeare. Rafael, Händel u. s. w., Genien, in welchen in der That
die Fülle der Idee in ein Exemplar ausgegossen erscheint. -

Hatte Ullmann hiermit wenigstens vergleichweise den Begriff des Genius
herbeigezogen, so nahm Strauß seinen Gegner beim Wort, indem er mit diesem
Begriff Ernst machte und Jesus die Stelle eines religiösen Genius anwies?
was er in einer eigenen Schrift: „Vergängliches und Bleibendes im Christen¬
thum" noch näher ausführte. Strauß beabsichtigte mit diesen Monologen eine
Art Gegenstücks zu seinen Streitschriften. Im Bewußtsein, daß sein erstes
Werk wesentlich negativ gewesen, will er genauer nachsehen, ob außer jenem
philosophischen Rest in der Schiußabhandlung aus dem Leben Jesu nichts
übrig bleibe, was noch einen Werth habe für das religiöse Bedürfniß der Gegen¬
wart. Vom jetzigen Standpunkt des Bewußtseins aus soll die religiöse Be¬
deutung der geschichtlichen Persönlichkeit Jesu festgestellt werden. Zu diesem
Zweck wird der Anfang des Christenthums betrachtet als einer jener Knoten¬
punkte der Geschichte, jener Höhen der Menschheit, auf welchen die Individuen


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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 23, 1864, I. Semester. II. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341799_188560/93>, abgerufen am 25.08.2024.