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Die Grenzboten. Jg. 23, 1864, I. Semester. II. Band.

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Die geschlechtliche Fortpflanzung der Gewächse.

Die Schnelligkeit der Kolonisation weiter Landstriche durch Culturvölker
der alten und der neuen Zeit erregt stets aufs Neue unser gerechtes Erstaunen.
Nicht ohne Selbstgefühl Pflegen wir uns zu sagen, daß unter den modernen
Nationen vor allen die germanischen Stammes es sind, welche das stärkste
Ausbrcitungsstrcben. den erfolgreichsten Trieb der Besitznahme wüsten oder schlecht
bewirthschafteten Bodens kund geben. Und doch, was ist die rasche Germani-
sirung der jetzt deutschen Länder rechts der Elbe, was die reißend schnelle Be¬
setzung der weiten Continente Nordamerikas und Australiens gegen die Eile
und die Energie, mit welcher die Pflanzenwelt den Besitz herrenlosen Bodens
ergreift? Wo immer nur auf der Erde, unter Verhältnissen, welche überhaupt
eine Vegetation gestatten, ein vegetationsleerer Raum gebildet werden möge,
da bekleidet er sich binnen kürzester Frist mit einer Pflanzendecke. Die neuen
Ansiedler sind allerwärts die Nachkommen von Pflanzen anderer Standorte,
keine neuen Erschaffungen. Die Erfahrung lehrt uns dies mit ausnahmsloser
Giltigkeit. für den Anflug junger Birken auf der Stätte eines Waldbrandes
so gut, wie für den Ueberzug von Schimmel, der auf einer feuchten Brodkruste
sich bildet. Der neue Boden wird bevölkert durch die Ankunft zur Weiteren!-
Wickelung gelangender Keime, aus dem Zusammenhang mit dem Mutterstock
gelöster Theile von Individuen anderwärts gewachsener Pflanzen.

Solche vom mütterlichen Organismus sich trennende, der selbständigen
Vegetation fähige Keime sind bei nicht wenigen auch der zusammengesetztest
gebauten Pflanzen unmittelbare Hervorbringungen der ununterbrochen verlau¬
fenden Entwickelung. Die Brutzwiebeln vieler Lilien und Laucharten, die Knollen
der Kartoffeln, die Ausläufer der Erdbeerstauden -- sie alle sind in der Ent-
faltung nur wenig von den übrigen Sprossen der Mutterpflanze abweichende
Zweige, alle mit dem Vermögen begabt, nach Abtrennung von dem Stamm¬
gewächs für sich allein sortzuwachsen. Unter den Gewächsen einfacherer Organi-
sation ist die Fortpflanzung durch Weiterentwickelung aus dem Zusammenhange
der Mutterpflanze ohne weitere Vorbereitung sich lösender Theile von ausgedehn¬
tester Verbreitung. Aber ungleich häufiger, als diese Fortpflanzung durch
Brutknospen oder durch Theilung ist unter den complicirter organisirten Ge¬
wächsen diejenige, bei welcher es der Einwirkung eines nur für diese Thätigkeit
bestimmten Organs auf ein anderes eigenthümliches Gebilde bedarf, um das
letztere zur Fortentwickelung auch nach seiner Abtrennung von der Stammpflanze
zu befähigen. Und keinem Typus pflanzlicher Gestaltung, auch nicht dem ein-


Die geschlechtliche Fortpflanzung der Gewächse.

Die Schnelligkeit der Kolonisation weiter Landstriche durch Culturvölker
der alten und der neuen Zeit erregt stets aufs Neue unser gerechtes Erstaunen.
Nicht ohne Selbstgefühl Pflegen wir uns zu sagen, daß unter den modernen
Nationen vor allen die germanischen Stammes es sind, welche das stärkste
Ausbrcitungsstrcben. den erfolgreichsten Trieb der Besitznahme wüsten oder schlecht
bewirthschafteten Bodens kund geben. Und doch, was ist die rasche Germani-
sirung der jetzt deutschen Länder rechts der Elbe, was die reißend schnelle Be¬
setzung der weiten Continente Nordamerikas und Australiens gegen die Eile
und die Energie, mit welcher die Pflanzenwelt den Besitz herrenlosen Bodens
ergreift? Wo immer nur auf der Erde, unter Verhältnissen, welche überhaupt
eine Vegetation gestatten, ein vegetationsleerer Raum gebildet werden möge,
da bekleidet er sich binnen kürzester Frist mit einer Pflanzendecke. Die neuen
Ansiedler sind allerwärts die Nachkommen von Pflanzen anderer Standorte,
keine neuen Erschaffungen. Die Erfahrung lehrt uns dies mit ausnahmsloser
Giltigkeit. für den Anflug junger Birken auf der Stätte eines Waldbrandes
so gut, wie für den Ueberzug von Schimmel, der auf einer feuchten Brodkruste
sich bildet. Der neue Boden wird bevölkert durch die Ankunft zur Weiteren!-
Wickelung gelangender Keime, aus dem Zusammenhang mit dem Mutterstock
gelöster Theile von Individuen anderwärts gewachsener Pflanzen.

Solche vom mütterlichen Organismus sich trennende, der selbständigen
Vegetation fähige Keime sind bei nicht wenigen auch der zusammengesetztest
gebauten Pflanzen unmittelbare Hervorbringungen der ununterbrochen verlau¬
fenden Entwickelung. Die Brutzwiebeln vieler Lilien und Laucharten, die Knollen
der Kartoffeln, die Ausläufer der Erdbeerstauden — sie alle sind in der Ent-
faltung nur wenig von den übrigen Sprossen der Mutterpflanze abweichende
Zweige, alle mit dem Vermögen begabt, nach Abtrennung von dem Stamm¬
gewächs für sich allein sortzuwachsen. Unter den Gewächsen einfacherer Organi-
sation ist die Fortpflanzung durch Weiterentwickelung aus dem Zusammenhange
der Mutterpflanze ohne weitere Vorbereitung sich lösender Theile von ausgedehn¬
tester Verbreitung. Aber ungleich häufiger, als diese Fortpflanzung durch
Brutknospen oder durch Theilung ist unter den complicirter organisirten Ge¬
wächsen diejenige, bei welcher es der Einwirkung eines nur für diese Thätigkeit
bestimmten Organs auf ein anderes eigenthümliches Gebilde bedarf, um das
letztere zur Fortentwickelung auch nach seiner Abtrennung von der Stammpflanze
zu befähigen. Und keinem Typus pflanzlicher Gestaltung, auch nicht dem ein-


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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 23, 1864, I. Semester. II. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341799_188560/59>, abgerufen am 23.07.2024.