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Die Grenzboten. Jg. 23, 1864, I. Semester. II. Band.

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dabei wird der geschichtliche Vorzug, den man gewöhnlich dem vierten Evange¬
lium beilegt, auf jedem Punkt mit den triftigsten Gründen bestritten, und
häusig angedeutet, daß wenigstens die größere Wahrscheinlichkeit auf Seite der
Synoptiker sein möchte. Aber weiter wagt sich der behutsame Kritiker nicht,
immer schließt er mit einem von liesse. Die zerstreuten, auf den einzelnen
Punkten gewonnenen Bemerkungen mußten zu einer zusammenhängenden Unter¬
suchung werden, welche sich über die gesammte altchristliche Literatur erstreckte,
bevor man über die negativen Resultate von Strauß hinauskommen konnte.

Allein von seinem epochemachenden Charakter hat durch die späteren For¬
schungen das berühmte Buch nichts verloren. Es Hut die Gesammtarbeit des
Nationalismus zusammenfassend der kirchlichen Erzählung vom Leben Jesu die
Widersprüche nachgerechnet, in welche sie sich mit sich und mit den Denkgesetzen
verwickelt; in dieser Beziehung ist. was es geleistet hat. ein für alle Mal gethan.
Es hat damit zugleich die kirchliche Auffassung der Evangelienschriften aufs tiefste
erschüttert, und dies hat den weiteren Forschungen vorgearbeitet, welche von
dem nunmehr gewonnenen Standpunkte, diese Schriften nicht als göttlich ein¬
gegeben und unfehlbar, sondern als einfache Erzeugnisse der urchristlicher Lite¬
ratur zu betrachten, bereits ausgehen konnten. Indem Strauß mit einem rein
negativen Ergebniß abschloß, zeigte er, daß auf dem bisherigen Wege, durch
die bloße Gegenüber- und Zusammenstellung der Evangelien keine weitere Unter¬
suchung mehr möglich war, daß diese vielmehr nach einem andern Ausgangs¬
punkte zu suchen hatte. Indem er den mythischen Gesichtspunkt für das Ganze
der evangelischen Geschichte durchführte, wies er auf den ganz richtigen Weg.
nämlich nach den Motiven zu suchen, aus welchen die biblischen Sagen nichl
blos, sondern auch die scheinbar historischen Erzählungen sich herausgebildet
haben. Indem er zuerst in ein rein kritisches, parteiloses Verhältniß zu seinem
Gegenstand sich setzte, durchbrach er die dogmatische oder einseitig teleologische
Auffassung des Urchristenthums und bereitete die historische vor, welche nur
durch dieselbe kritische Methode gewonnen werden konnte, mit der man längst
die Probleme der Prosangeschichte zu behandeln gewohnt war. So war das
Werk abschließend zugleich und vorwärts deutend, es ist, wie Strauß selbst mit
Recht sagen konnte, "das geschichtliche Denkmal eines Wendepunktes in der
Entwickelung der neueren Theologie", und dieser Ruhm wird ihm bleiben.




dabei wird der geschichtliche Vorzug, den man gewöhnlich dem vierten Evange¬
lium beilegt, auf jedem Punkt mit den triftigsten Gründen bestritten, und
häusig angedeutet, daß wenigstens die größere Wahrscheinlichkeit auf Seite der
Synoptiker sein möchte. Aber weiter wagt sich der behutsame Kritiker nicht,
immer schließt er mit einem von liesse. Die zerstreuten, auf den einzelnen
Punkten gewonnenen Bemerkungen mußten zu einer zusammenhängenden Unter¬
suchung werden, welche sich über die gesammte altchristliche Literatur erstreckte,
bevor man über die negativen Resultate von Strauß hinauskommen konnte.

Allein von seinem epochemachenden Charakter hat durch die späteren For¬
schungen das berühmte Buch nichts verloren. Es Hut die Gesammtarbeit des
Nationalismus zusammenfassend der kirchlichen Erzählung vom Leben Jesu die
Widersprüche nachgerechnet, in welche sie sich mit sich und mit den Denkgesetzen
verwickelt; in dieser Beziehung ist. was es geleistet hat. ein für alle Mal gethan.
Es hat damit zugleich die kirchliche Auffassung der Evangelienschriften aufs tiefste
erschüttert, und dies hat den weiteren Forschungen vorgearbeitet, welche von
dem nunmehr gewonnenen Standpunkte, diese Schriften nicht als göttlich ein¬
gegeben und unfehlbar, sondern als einfache Erzeugnisse der urchristlicher Lite¬
ratur zu betrachten, bereits ausgehen konnten. Indem Strauß mit einem rein
negativen Ergebniß abschloß, zeigte er, daß auf dem bisherigen Wege, durch
die bloße Gegenüber- und Zusammenstellung der Evangelien keine weitere Unter¬
suchung mehr möglich war, daß diese vielmehr nach einem andern Ausgangs¬
punkte zu suchen hatte. Indem er den mythischen Gesichtspunkt für das Ganze
der evangelischen Geschichte durchführte, wies er auf den ganz richtigen Weg.
nämlich nach den Motiven zu suchen, aus welchen die biblischen Sagen nichl
blos, sondern auch die scheinbar historischen Erzählungen sich herausgebildet
haben. Indem er zuerst in ein rein kritisches, parteiloses Verhältniß zu seinem
Gegenstand sich setzte, durchbrach er die dogmatische oder einseitig teleologische
Auffassung des Urchristenthums und bereitete die historische vor, welche nur
durch dieselbe kritische Methode gewonnen werden konnte, mit der man längst
die Probleme der Prosangeschichte zu behandeln gewohnt war. So war das
Werk abschließend zugleich und vorwärts deutend, es ist, wie Strauß selbst mit
Recht sagen konnte, „das geschichtliche Denkmal eines Wendepunktes in der
Entwickelung der neueren Theologie", und dieser Ruhm wird ihm bleiben.




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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 23, 1864, I. Semester. II. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341799_188560/58>, abgerufen am 23.07.2024.