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Die Grenzboten. Jg. 23, 1864, I. Semester. II. Band.

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Erzählung, sondern auch nur eine Zusammenstellung der Hauptmomente des
Lebens Jesu, ja selbst eine zusammenfassende Charakteristik seiner Person aus¬
geschlossen. Nicht der Zweifel an der Realität des Lebens Jesu, wohl aber der.
Zweifel an der Realität aller einzelnen überlieferten Geschichten und Züge dieses
Lebens, dies war das letzte Resultat der Straußfeder Kritik.

Es war nun leicht zu sehen, daß auch dies mit der kritischen Gewissen¬
haftigkeit und Unbestechlichkeit des Standpunktes von Strauß überhaupt zusammen¬
hing, der mit Zurückdrängung aller Subjectivität rein nur den Gang der Unter¬
suchung selbst sprechen, ihn wie einen Naturproceß sich vollziehen ließ und alle
Hypothesen und Combinationen, wie er sie an Andern bekämpft, so auch seiner¬
seits aufs strengste abwies. Allein die Wahrnehmung, daß die genaueste Durch¬
wühlung der Quellen nur dazu dienen sollte, den Thatbestand des Lebens Jesu
auf jedem Punkte unsicher zu machen, hatte etwas Unbefriedigendes, gegen das
nicht nur die religiöse Angewöhnung sich auflehnte. Die Wiederherstellung des
dogmatischen Gehalts des Lebens Jesu bot nur einen dürftigen Ersatz, da sie
doch nur den philosophisch Gebildeten zugänglich war, aber weder dem religiösen
noch dem historischen Interesse genugthat. Betroffen, mit ängstlicher Rat¬
losigkeit stand man gegenüber dieser Negativität des Resultats; hing sie doch
aufs engste zusammen mit der Kritik der evangelischen Berichterstattung, die
man nicht anzugreifen im Stande war. Der Widerspruch war allgemein, aber
er war um so tumultuarischer, da man nicht klar war, wo der Fehler eigent¬
lich sitze, und man an einer Reihe unwesentlicher Punkte herumtastete, um
Strauß vermeintlich zu widerlegen, den eigentlichen Kernpunkt aber nicht treffen
konnte. Und doch kam alles darauf an, den Sitz des Rechnungsfehlers zu
entdecken, dem man Wohl auf der Spur war, aber ohne seiner habhaft zu
werden.

Man weiß jetzt, wo dieser Fehler sitzt. Er hing aufs engste mit der ganzen
Methode der Untersuchung zusammen und beruht auf dem damaligen Zustand
der 'neutestamentlichen Kritik. Indem Strauß einfach die vier evangelischen
Berichte einander gegenüberstellte, diese aber nicht blos in Nebenumständen,
sondern auch in Bezug aus Hauptthatsachen nicht zu vereinigen waren, so schien
man sich überall mit der bloßen Constatirung dieser Widersprüche begnügen zu
müssen. Jede Combination, jeder Ausgleichungsversuch hätte aus die Wege
zurücklcnken müssen, welche Strauß eben für immer abwies. Wie konnte histo¬
risch Sicheres z. B. über den Schauplatz der Thätigkeit Jesu sich ermitteln
lassen, wenn die drei ersten Evangelien Jesus bis zu der letzten entscheidenden
Reise nach Jerusalem in Galiläa verweilen lassen, das vierte Evangelium ihn
durch die wiederholten Festreisen von Anfang an mit dem Centrum des Juden-
thums in Berührung bringt und diese Differenz für den ganzen Gang der
beiderseitigen Relation entscheidend ist? Was über die Einsetzung des Ge-


Erzählung, sondern auch nur eine Zusammenstellung der Hauptmomente des
Lebens Jesu, ja selbst eine zusammenfassende Charakteristik seiner Person aus¬
geschlossen. Nicht der Zweifel an der Realität des Lebens Jesu, wohl aber der.
Zweifel an der Realität aller einzelnen überlieferten Geschichten und Züge dieses
Lebens, dies war das letzte Resultat der Straußfeder Kritik.

Es war nun leicht zu sehen, daß auch dies mit der kritischen Gewissen¬
haftigkeit und Unbestechlichkeit des Standpunktes von Strauß überhaupt zusammen¬
hing, der mit Zurückdrängung aller Subjectivität rein nur den Gang der Unter¬
suchung selbst sprechen, ihn wie einen Naturproceß sich vollziehen ließ und alle
Hypothesen und Combinationen, wie er sie an Andern bekämpft, so auch seiner¬
seits aufs strengste abwies. Allein die Wahrnehmung, daß die genaueste Durch¬
wühlung der Quellen nur dazu dienen sollte, den Thatbestand des Lebens Jesu
auf jedem Punkte unsicher zu machen, hatte etwas Unbefriedigendes, gegen das
nicht nur die religiöse Angewöhnung sich auflehnte. Die Wiederherstellung des
dogmatischen Gehalts des Lebens Jesu bot nur einen dürftigen Ersatz, da sie
doch nur den philosophisch Gebildeten zugänglich war, aber weder dem religiösen
noch dem historischen Interesse genugthat. Betroffen, mit ängstlicher Rat¬
losigkeit stand man gegenüber dieser Negativität des Resultats; hing sie doch
aufs engste zusammen mit der Kritik der evangelischen Berichterstattung, die
man nicht anzugreifen im Stande war. Der Widerspruch war allgemein, aber
er war um so tumultuarischer, da man nicht klar war, wo der Fehler eigent¬
lich sitze, und man an einer Reihe unwesentlicher Punkte herumtastete, um
Strauß vermeintlich zu widerlegen, den eigentlichen Kernpunkt aber nicht treffen
konnte. Und doch kam alles darauf an, den Sitz des Rechnungsfehlers zu
entdecken, dem man Wohl auf der Spur war, aber ohne seiner habhaft zu
werden.

Man weiß jetzt, wo dieser Fehler sitzt. Er hing aufs engste mit der ganzen
Methode der Untersuchung zusammen und beruht auf dem damaligen Zustand
der 'neutestamentlichen Kritik. Indem Strauß einfach die vier evangelischen
Berichte einander gegenüberstellte, diese aber nicht blos in Nebenumständen,
sondern auch in Bezug aus Hauptthatsachen nicht zu vereinigen waren, so schien
man sich überall mit der bloßen Constatirung dieser Widersprüche begnügen zu
müssen. Jede Combination, jeder Ausgleichungsversuch hätte aus die Wege
zurücklcnken müssen, welche Strauß eben für immer abwies. Wie konnte histo¬
risch Sicheres z. B. über den Schauplatz der Thätigkeit Jesu sich ermitteln
lassen, wenn die drei ersten Evangelien Jesus bis zu der letzten entscheidenden
Reise nach Jerusalem in Galiläa verweilen lassen, das vierte Evangelium ihn
durch die wiederholten Festreisen von Anfang an mit dem Centrum des Juden-
thums in Berührung bringt und diese Differenz für den ganzen Gang der
beiderseitigen Relation entscheidend ist? Was über die Einsetzung des Ge-


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[0056] Erzählung, sondern auch nur eine Zusammenstellung der Hauptmomente des Lebens Jesu, ja selbst eine zusammenfassende Charakteristik seiner Person aus¬ geschlossen. Nicht der Zweifel an der Realität des Lebens Jesu, wohl aber der. Zweifel an der Realität aller einzelnen überlieferten Geschichten und Züge dieses Lebens, dies war das letzte Resultat der Straußfeder Kritik. Es war nun leicht zu sehen, daß auch dies mit der kritischen Gewissen¬ haftigkeit und Unbestechlichkeit des Standpunktes von Strauß überhaupt zusammen¬ hing, der mit Zurückdrängung aller Subjectivität rein nur den Gang der Unter¬ suchung selbst sprechen, ihn wie einen Naturproceß sich vollziehen ließ und alle Hypothesen und Combinationen, wie er sie an Andern bekämpft, so auch seiner¬ seits aufs strengste abwies. Allein die Wahrnehmung, daß die genaueste Durch¬ wühlung der Quellen nur dazu dienen sollte, den Thatbestand des Lebens Jesu auf jedem Punkte unsicher zu machen, hatte etwas Unbefriedigendes, gegen das nicht nur die religiöse Angewöhnung sich auflehnte. Die Wiederherstellung des dogmatischen Gehalts des Lebens Jesu bot nur einen dürftigen Ersatz, da sie doch nur den philosophisch Gebildeten zugänglich war, aber weder dem religiösen noch dem historischen Interesse genugthat. Betroffen, mit ängstlicher Rat¬ losigkeit stand man gegenüber dieser Negativität des Resultats; hing sie doch aufs engste zusammen mit der Kritik der evangelischen Berichterstattung, die man nicht anzugreifen im Stande war. Der Widerspruch war allgemein, aber er war um so tumultuarischer, da man nicht klar war, wo der Fehler eigent¬ lich sitze, und man an einer Reihe unwesentlicher Punkte herumtastete, um Strauß vermeintlich zu widerlegen, den eigentlichen Kernpunkt aber nicht treffen konnte. Und doch kam alles darauf an, den Sitz des Rechnungsfehlers zu entdecken, dem man Wohl auf der Spur war, aber ohne seiner habhaft zu werden. Man weiß jetzt, wo dieser Fehler sitzt. Er hing aufs engste mit der ganzen Methode der Untersuchung zusammen und beruht auf dem damaligen Zustand der 'neutestamentlichen Kritik. Indem Strauß einfach die vier evangelischen Berichte einander gegenüberstellte, diese aber nicht blos in Nebenumständen, sondern auch in Bezug aus Hauptthatsachen nicht zu vereinigen waren, so schien man sich überall mit der bloßen Constatirung dieser Widersprüche begnügen zu müssen. Jede Combination, jeder Ausgleichungsversuch hätte aus die Wege zurücklcnken müssen, welche Strauß eben für immer abwies. Wie konnte histo¬ risch Sicheres z. B. über den Schauplatz der Thätigkeit Jesu sich ermitteln lassen, wenn die drei ersten Evangelien Jesus bis zu der letzten entscheidenden Reise nach Jerusalem in Galiläa verweilen lassen, das vierte Evangelium ihn durch die wiederholten Festreisen von Anfang an mit dem Centrum des Juden- thums in Berührung bringt und diese Differenz für den ganzen Gang der beiderseitigen Relation entscheidend ist? Was über die Einsetzung des Ge-

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 23, 1864, I. Semester. II. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341799_188560/56>, abgerufen am 23.07.2024.