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Die Grenzboten. Jg. 23, 1864, I. Semester. II. Band.

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schichtliches aufgelöst und in Sagenbildungen der ersten Gemeinde verwandelt
so war es die 'Aufgabe der Schlußabhanbiung, das kritisch Vernichtete dogma¬
tisch wiederherzustellen. Den Kern des christlichen Glaubens, sagte Strauß,
wisse er von seinen kritischen Untersuchungen vollkommen unabhängig, und die
Kaltblütigkeit, mit welcher die Kritik scheinbar gefährliche Operationen vornehme,
.könne nur aus der Sicherheit der Ueberzeugung erklcin werden, daß ihr Ge¬
schäft die Grundwahrheiten des christlichen Glaubens nicht verletze. Das Posi¬
tive in der Lehre von der Pnson Christi findet er nun aber nicht mit der
hegelschen Schule darin, daß nun doch die Einheit der göttlichen und mensch¬
lichen Natur in dem Menschen Jesus individuell und ausschließlich verwirklicht
gewesen sei; vielmehr sei jene Einheit vollkommen nur in der menschlichen
, Gattung, in dem Ganzen des Menschengeschlechts vorhanden. "Die Mensch¬
heit ist die Bereinigung'der beiden Naturen, der menschgewordene Gott, der
zur Endlichkeit entäußerte unendliche und der seiner Unendlichkeit sich erinnernde
endliche Geist, sie ist das Kind der sichtbaren Mutter und des unsichtbaren
Vaters, des Geistes und der Natur, sie ist der Wunderthäter, sofern im Ver¬
lauf der Menschengeschichte der Geist sich immer vollständiger der Natur be¬
mächtigt, diese ihm gegenüber zum machtlosen Material seiner Thätigkeit herunter¬
gesetzt wird, sie ist der Unsüubliche, sofern der Gang ihrer Entwickelung ein
tadelloser ist, die Verunreinigung immer nur am Individuum klebt, in der
Gattung aber und ihrer Geschichte aufgehoben ist, sie ist der Sterbende, Auf¬
erstehende und zum Himmel Fahrende, sofern ihr aus der Negation ihrer
Natürlichkeit immer höheres geistiges Leben hervorgeht. Durch den Glauben
an diesen Christus, namentlich an seinen Tod und seine Auferstehung, wird
der Mensch vor Gott.gerecht, d. h. durch die Belebung der Idee der Mensch¬
heit in sich, namentlich nach dem Momente, daß die Negation der Natürlich¬
keit der einzige Weg zum wahren geistigen Leben für den Menschen sei, wird
auch der Einzelne des gottmcnschlichen Lebens der Gattung theilhaftig."

Der Haupttheil des Straußfeder Werks ist der kritische, wie er auch bei
weitem den größten Raum einnimmt. Die Zerstörung der kirchlichen Vorstel¬
lung Vom Leben Jesu war die Hauptabsicht, und die Art und Weise der Aus¬
führung, die logische Schärfe, mit welcher die Widersprüche aneinandcrge-
halten und alle Versuche sie zu bemänteln unerbittlich zermalmt werden, die
einfache Dialektik, welche die verwickelten Knoten wie von selbst sich lösen läßt,
die heitere Objectivität der Beweisführung, die Kunst der Gruppirung, die
Durchsichtigkeit der Sprache, welcher jede Zweideutigkeit widersteht, haben dem
Buche sofort eine classische Geltung in unsrer wissenschaftlichen Literatur an¬
gewiesen. Der Widerspruch des modernen Bewußtseins mit der überlieferten
kirchlichen Vorstellung war längst geahnt, an einzelnen Punkten aufgezeigt,
aber man hatte immer wieder nach Auskunftsmitteln gegriffen, um sich diese


schichtliches aufgelöst und in Sagenbildungen der ersten Gemeinde verwandelt
so war es die 'Aufgabe der Schlußabhanbiung, das kritisch Vernichtete dogma¬
tisch wiederherzustellen. Den Kern des christlichen Glaubens, sagte Strauß,
wisse er von seinen kritischen Untersuchungen vollkommen unabhängig, und die
Kaltblütigkeit, mit welcher die Kritik scheinbar gefährliche Operationen vornehme,
.könne nur aus der Sicherheit der Ueberzeugung erklcin werden, daß ihr Ge¬
schäft die Grundwahrheiten des christlichen Glaubens nicht verletze. Das Posi¬
tive in der Lehre von der Pnson Christi findet er nun aber nicht mit der
hegelschen Schule darin, daß nun doch die Einheit der göttlichen und mensch¬
lichen Natur in dem Menschen Jesus individuell und ausschließlich verwirklicht
gewesen sei; vielmehr sei jene Einheit vollkommen nur in der menschlichen
, Gattung, in dem Ganzen des Menschengeschlechts vorhanden. „Die Mensch¬
heit ist die Bereinigung'der beiden Naturen, der menschgewordene Gott, der
zur Endlichkeit entäußerte unendliche und der seiner Unendlichkeit sich erinnernde
endliche Geist, sie ist das Kind der sichtbaren Mutter und des unsichtbaren
Vaters, des Geistes und der Natur, sie ist der Wunderthäter, sofern im Ver¬
lauf der Menschengeschichte der Geist sich immer vollständiger der Natur be¬
mächtigt, diese ihm gegenüber zum machtlosen Material seiner Thätigkeit herunter¬
gesetzt wird, sie ist der Unsüubliche, sofern der Gang ihrer Entwickelung ein
tadelloser ist, die Verunreinigung immer nur am Individuum klebt, in der
Gattung aber und ihrer Geschichte aufgehoben ist, sie ist der Sterbende, Auf¬
erstehende und zum Himmel Fahrende, sofern ihr aus der Negation ihrer
Natürlichkeit immer höheres geistiges Leben hervorgeht. Durch den Glauben
an diesen Christus, namentlich an seinen Tod und seine Auferstehung, wird
der Mensch vor Gott.gerecht, d. h. durch die Belebung der Idee der Mensch¬
heit in sich, namentlich nach dem Momente, daß die Negation der Natürlich¬
keit der einzige Weg zum wahren geistigen Leben für den Menschen sei, wird
auch der Einzelne des gottmcnschlichen Lebens der Gattung theilhaftig."

Der Haupttheil des Straußfeder Werks ist der kritische, wie er auch bei
weitem den größten Raum einnimmt. Die Zerstörung der kirchlichen Vorstel¬
lung Vom Leben Jesu war die Hauptabsicht, und die Art und Weise der Aus¬
führung, die logische Schärfe, mit welcher die Widersprüche aneinandcrge-
halten und alle Versuche sie zu bemänteln unerbittlich zermalmt werden, die
einfache Dialektik, welche die verwickelten Knoten wie von selbst sich lösen läßt,
die heitere Objectivität der Beweisführung, die Kunst der Gruppirung, die
Durchsichtigkeit der Sprache, welcher jede Zweideutigkeit widersteht, haben dem
Buche sofort eine classische Geltung in unsrer wissenschaftlichen Literatur an¬
gewiesen. Der Widerspruch des modernen Bewußtseins mit der überlieferten
kirchlichen Vorstellung war längst geahnt, an einzelnen Punkten aufgezeigt,
aber man hatte immer wieder nach Auskunftsmitteln gegriffen, um sich diese


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[0054] schichtliches aufgelöst und in Sagenbildungen der ersten Gemeinde verwandelt so war es die 'Aufgabe der Schlußabhanbiung, das kritisch Vernichtete dogma¬ tisch wiederherzustellen. Den Kern des christlichen Glaubens, sagte Strauß, wisse er von seinen kritischen Untersuchungen vollkommen unabhängig, und die Kaltblütigkeit, mit welcher die Kritik scheinbar gefährliche Operationen vornehme, .könne nur aus der Sicherheit der Ueberzeugung erklcin werden, daß ihr Ge¬ schäft die Grundwahrheiten des christlichen Glaubens nicht verletze. Das Posi¬ tive in der Lehre von der Pnson Christi findet er nun aber nicht mit der hegelschen Schule darin, daß nun doch die Einheit der göttlichen und mensch¬ lichen Natur in dem Menschen Jesus individuell und ausschließlich verwirklicht gewesen sei; vielmehr sei jene Einheit vollkommen nur in der menschlichen , Gattung, in dem Ganzen des Menschengeschlechts vorhanden. „Die Mensch¬ heit ist die Bereinigung'der beiden Naturen, der menschgewordene Gott, der zur Endlichkeit entäußerte unendliche und der seiner Unendlichkeit sich erinnernde endliche Geist, sie ist das Kind der sichtbaren Mutter und des unsichtbaren Vaters, des Geistes und der Natur, sie ist der Wunderthäter, sofern im Ver¬ lauf der Menschengeschichte der Geist sich immer vollständiger der Natur be¬ mächtigt, diese ihm gegenüber zum machtlosen Material seiner Thätigkeit herunter¬ gesetzt wird, sie ist der Unsüubliche, sofern der Gang ihrer Entwickelung ein tadelloser ist, die Verunreinigung immer nur am Individuum klebt, in der Gattung aber und ihrer Geschichte aufgehoben ist, sie ist der Sterbende, Auf¬ erstehende und zum Himmel Fahrende, sofern ihr aus der Negation ihrer Natürlichkeit immer höheres geistiges Leben hervorgeht. Durch den Glauben an diesen Christus, namentlich an seinen Tod und seine Auferstehung, wird der Mensch vor Gott.gerecht, d. h. durch die Belebung der Idee der Mensch¬ heit in sich, namentlich nach dem Momente, daß die Negation der Natürlich¬ keit der einzige Weg zum wahren geistigen Leben für den Menschen sei, wird auch der Einzelne des gottmcnschlichen Lebens der Gattung theilhaftig." Der Haupttheil des Straußfeder Werks ist der kritische, wie er auch bei weitem den größten Raum einnimmt. Die Zerstörung der kirchlichen Vorstel¬ lung Vom Leben Jesu war die Hauptabsicht, und die Art und Weise der Aus¬ führung, die logische Schärfe, mit welcher die Widersprüche aneinandcrge- halten und alle Versuche sie zu bemänteln unerbittlich zermalmt werden, die einfache Dialektik, welche die verwickelten Knoten wie von selbst sich lösen läßt, die heitere Objectivität der Beweisführung, die Kunst der Gruppirung, die Durchsichtigkeit der Sprache, welcher jede Zweideutigkeit widersteht, haben dem Buche sofort eine classische Geltung in unsrer wissenschaftlichen Literatur an¬ gewiesen. Der Widerspruch des modernen Bewußtseins mit der überlieferten kirchlichen Vorstellung war längst geahnt, an einzelnen Punkten aufgezeigt, aber man hatte immer wieder nach Auskunftsmitteln gegriffen, um sich diese

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 23, 1864, I. Semester. II. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341799_188560/54>, abgerufen am 23.07.2024.