Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Die Grenzboten. Jg. 23, 1864, I. Semester. II. Band.

Bild:
<< vorherige Seite

den ist sein Standpunkt nur insofern als die Forschungen über die Bildung
der Evangclienlitcratur über die Negationen seines Resultats hinausgeführt
haben.

Aber wie verhält es sich nun näher mit diesem negativen, destructiven
Charakter des straußischen Buchs? Mit andern Worten, was hat es leisten
wollen und was hat es geleistet?

Das Leben Jesu von Strauß zerfällt in drei räumlich allerdings ungleiche
Theile, einen orientirenden, einen kritischen und einen philosophischen. Der
erste rechtfertigt die mythische Auffassungsweise, der zweite führt diesen Stand¬
punkt an den einzelnen Erzählungen der neutestamentlichen Geschichte durch,
der dritte stellt das auf kritischem Wege Vernichtete philosophisch wieder her.

An die Stelle der veralteten supranaturalen und übernatürlichen Be¬
trachtungsweise der Geschichte Jesu, so beginnt Strauß, wolle er eine neue
setzen, die mythische Auffassung. Nicht als ob die ganze Geschichte Jesu für
mythisch ausgegeben werden soll, aber alles in ihr soll kritisch darauf angesehen
werden, ob es nicht Mythisches in sich habe. Wenn die altkirchliche Auslegung
davon ausging, daß in den Evangelien erstlich Geschichte, und zwar zweitens
eine übernatürliche enthalten sei, wenn hierauf der Rationalismus die zweite
dieser Voraussetzungen wegwarf, doch nur um desto fester an der ersten zu
halten, daß in jenen Büchern lautere, wenngleich natürliche Geschichte sich finde:
so konnte auf diesem halben Wege die Wissenschaft nicht stehen bleiben, sondern
es mußte auch die andere Voraussetzung fallen gelassen und erst untersucht
werden, ob und wie weit wir überhaupt in den Evangelien auf historischem
Grund und Boden stehen. Der Begriff des Mythus, herübergenommen aus
der profanen Urgeschichte, hatte schon vor Strauß in die Auffassung des alten
Testaments, bald auch in die des neuen Eingang gefunden. Aber er war bis¬
her weder rein gefaßt noch in seinem gehörigen Umfang angewendet worden.
Nicht rein gefaßt, weil neben der mythischen auch die natürliche Auslegung
immer noch ncbenherzulaufen Pflegte und es an Kriterien fehlte, das Geschicht¬
liche von dem sagenhaften auszuscheiden. Nicht umfassend genug angewandt,
weil der Mythus lange an der Schwelle der Kindheitgeschichtc Jesu stehen blieb,
später auch Jesu Lebensende, die Himmelfahrt, anzugreifen wagte, so daß nun
Anfang und Ende von kritischen Zweifeln angefressen war, während der eigent¬
liche Kern von der Taufe bis zur Auferstehung immer noch unangetastet bleiben
sollte, so daß man "durch das Prachtthor der Mythe in die evangelische Geschichte
hinein und durch ein ähnliches wieder hinausfuhr, für das Dazwischenliegende
aber mit den krummen und mühseligen Pfaden der natürlichen Erklärung sich
begnügte." Strauß fand, wenn der Begriff des Mythus einmal zugelassen,
lasse sich eine solche Schranke nirgends ziehen. Den Begriff des Mythus also
aus den ganzen Umfang der Lebensgeschichte Jesu anzuwenden, in allen Theilen


den ist sein Standpunkt nur insofern als die Forschungen über die Bildung
der Evangclienlitcratur über die Negationen seines Resultats hinausgeführt
haben.

Aber wie verhält es sich nun näher mit diesem negativen, destructiven
Charakter des straußischen Buchs? Mit andern Worten, was hat es leisten
wollen und was hat es geleistet?

Das Leben Jesu von Strauß zerfällt in drei räumlich allerdings ungleiche
Theile, einen orientirenden, einen kritischen und einen philosophischen. Der
erste rechtfertigt die mythische Auffassungsweise, der zweite führt diesen Stand¬
punkt an den einzelnen Erzählungen der neutestamentlichen Geschichte durch,
der dritte stellt das auf kritischem Wege Vernichtete philosophisch wieder her.

An die Stelle der veralteten supranaturalen und übernatürlichen Be¬
trachtungsweise der Geschichte Jesu, so beginnt Strauß, wolle er eine neue
setzen, die mythische Auffassung. Nicht als ob die ganze Geschichte Jesu für
mythisch ausgegeben werden soll, aber alles in ihr soll kritisch darauf angesehen
werden, ob es nicht Mythisches in sich habe. Wenn die altkirchliche Auslegung
davon ausging, daß in den Evangelien erstlich Geschichte, und zwar zweitens
eine übernatürliche enthalten sei, wenn hierauf der Rationalismus die zweite
dieser Voraussetzungen wegwarf, doch nur um desto fester an der ersten zu
halten, daß in jenen Büchern lautere, wenngleich natürliche Geschichte sich finde:
so konnte auf diesem halben Wege die Wissenschaft nicht stehen bleiben, sondern
es mußte auch die andere Voraussetzung fallen gelassen und erst untersucht
werden, ob und wie weit wir überhaupt in den Evangelien auf historischem
Grund und Boden stehen. Der Begriff des Mythus, herübergenommen aus
der profanen Urgeschichte, hatte schon vor Strauß in die Auffassung des alten
Testaments, bald auch in die des neuen Eingang gefunden. Aber er war bis¬
her weder rein gefaßt noch in seinem gehörigen Umfang angewendet worden.
Nicht rein gefaßt, weil neben der mythischen auch die natürliche Auslegung
immer noch ncbenherzulaufen Pflegte und es an Kriterien fehlte, das Geschicht¬
liche von dem sagenhaften auszuscheiden. Nicht umfassend genug angewandt,
weil der Mythus lange an der Schwelle der Kindheitgeschichtc Jesu stehen blieb,
später auch Jesu Lebensende, die Himmelfahrt, anzugreifen wagte, so daß nun
Anfang und Ende von kritischen Zweifeln angefressen war, während der eigent¬
liche Kern von der Taufe bis zur Auferstehung immer noch unangetastet bleiben
sollte, so daß man „durch das Prachtthor der Mythe in die evangelische Geschichte
hinein und durch ein ähnliches wieder hinausfuhr, für das Dazwischenliegende
aber mit den krummen und mühseligen Pfaden der natürlichen Erklärung sich
begnügte." Strauß fand, wenn der Begriff des Mythus einmal zugelassen,
lasse sich eine solche Schranke nirgends ziehen. Den Begriff des Mythus also
aus den ganzen Umfang der Lebensgeschichte Jesu anzuwenden, in allen Theilen


<TEI>
  <text>
    <body>
      <div>
        <div n="1">
          <pb facs="#f0052" corresp="http://brema.suub.uni-bremen.de/grenzboten/periodical/pageview/188613"/>
          <p xml:id="ID_139" prev="#ID_138"> den ist sein Standpunkt nur insofern als die Forschungen über die Bildung<lb/>
der Evangclienlitcratur über die Negationen seines Resultats hinausgeführt<lb/>
haben.</p><lb/>
          <p xml:id="ID_140"> Aber wie verhält es sich nun näher mit diesem negativen, destructiven<lb/>
Charakter des straußischen Buchs? Mit andern Worten, was hat es leisten<lb/>
wollen und was hat es geleistet?</p><lb/>
          <p xml:id="ID_141"> Das Leben Jesu von Strauß zerfällt in drei räumlich allerdings ungleiche<lb/>
Theile, einen orientirenden, einen kritischen und einen philosophischen. Der<lb/>
erste rechtfertigt die mythische Auffassungsweise, der zweite führt diesen Stand¬<lb/>
punkt an den einzelnen Erzählungen der neutestamentlichen Geschichte durch,<lb/>
der dritte stellt das auf kritischem Wege Vernichtete philosophisch wieder her.</p><lb/>
          <p xml:id="ID_142" next="#ID_143"> An die Stelle der veralteten supranaturalen und übernatürlichen Be¬<lb/>
trachtungsweise der Geschichte Jesu, so beginnt Strauß, wolle er eine neue<lb/>
setzen, die mythische Auffassung. Nicht als ob die ganze Geschichte Jesu für<lb/>
mythisch ausgegeben werden soll, aber alles in ihr soll kritisch darauf angesehen<lb/>
werden, ob es nicht Mythisches in sich habe. Wenn die altkirchliche Auslegung<lb/>
davon ausging, daß in den Evangelien erstlich Geschichte, und zwar zweitens<lb/>
eine übernatürliche enthalten sei, wenn hierauf der Rationalismus die zweite<lb/>
dieser Voraussetzungen wegwarf, doch nur um desto fester an der ersten zu<lb/>
halten, daß in jenen Büchern lautere, wenngleich natürliche Geschichte sich finde:<lb/>
so konnte auf diesem halben Wege die Wissenschaft nicht stehen bleiben, sondern<lb/>
es mußte auch die andere Voraussetzung fallen gelassen und erst untersucht<lb/>
werden, ob und wie weit wir überhaupt in den Evangelien auf historischem<lb/>
Grund und Boden stehen. Der Begriff des Mythus, herübergenommen aus<lb/>
der profanen Urgeschichte, hatte schon vor Strauß in die Auffassung des alten<lb/>
Testaments, bald auch in die des neuen Eingang gefunden. Aber er war bis¬<lb/>
her weder rein gefaßt noch in seinem gehörigen Umfang angewendet worden.<lb/>
Nicht rein gefaßt, weil neben der mythischen auch die natürliche Auslegung<lb/>
immer noch ncbenherzulaufen Pflegte und es an Kriterien fehlte, das Geschicht¬<lb/>
liche von dem sagenhaften auszuscheiden. Nicht umfassend genug angewandt,<lb/>
weil der Mythus lange an der Schwelle der Kindheitgeschichtc Jesu stehen blieb,<lb/>
später auch Jesu Lebensende, die Himmelfahrt, anzugreifen wagte, so daß nun<lb/>
Anfang und Ende von kritischen Zweifeln angefressen war, während der eigent¬<lb/>
liche Kern von der Taufe bis zur Auferstehung immer noch unangetastet bleiben<lb/>
sollte, so daß man &#x201E;durch das Prachtthor der Mythe in die evangelische Geschichte<lb/>
hinein und durch ein ähnliches wieder hinausfuhr, für das Dazwischenliegende<lb/>
aber mit den krummen und mühseligen Pfaden der natürlichen Erklärung sich<lb/>
begnügte." Strauß fand, wenn der Begriff des Mythus einmal zugelassen,<lb/>
lasse sich eine solche Schranke nirgends ziehen. Den Begriff des Mythus also<lb/>
aus den ganzen Umfang der Lebensgeschichte Jesu anzuwenden, in allen Theilen</p><lb/>
        </div>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[0052] den ist sein Standpunkt nur insofern als die Forschungen über die Bildung der Evangclienlitcratur über die Negationen seines Resultats hinausgeführt haben. Aber wie verhält es sich nun näher mit diesem negativen, destructiven Charakter des straußischen Buchs? Mit andern Worten, was hat es leisten wollen und was hat es geleistet? Das Leben Jesu von Strauß zerfällt in drei räumlich allerdings ungleiche Theile, einen orientirenden, einen kritischen und einen philosophischen. Der erste rechtfertigt die mythische Auffassungsweise, der zweite führt diesen Stand¬ punkt an den einzelnen Erzählungen der neutestamentlichen Geschichte durch, der dritte stellt das auf kritischem Wege Vernichtete philosophisch wieder her. An die Stelle der veralteten supranaturalen und übernatürlichen Be¬ trachtungsweise der Geschichte Jesu, so beginnt Strauß, wolle er eine neue setzen, die mythische Auffassung. Nicht als ob die ganze Geschichte Jesu für mythisch ausgegeben werden soll, aber alles in ihr soll kritisch darauf angesehen werden, ob es nicht Mythisches in sich habe. Wenn die altkirchliche Auslegung davon ausging, daß in den Evangelien erstlich Geschichte, und zwar zweitens eine übernatürliche enthalten sei, wenn hierauf der Rationalismus die zweite dieser Voraussetzungen wegwarf, doch nur um desto fester an der ersten zu halten, daß in jenen Büchern lautere, wenngleich natürliche Geschichte sich finde: so konnte auf diesem halben Wege die Wissenschaft nicht stehen bleiben, sondern es mußte auch die andere Voraussetzung fallen gelassen und erst untersucht werden, ob und wie weit wir überhaupt in den Evangelien auf historischem Grund und Boden stehen. Der Begriff des Mythus, herübergenommen aus der profanen Urgeschichte, hatte schon vor Strauß in die Auffassung des alten Testaments, bald auch in die des neuen Eingang gefunden. Aber er war bis¬ her weder rein gefaßt noch in seinem gehörigen Umfang angewendet worden. Nicht rein gefaßt, weil neben der mythischen auch die natürliche Auslegung immer noch ncbenherzulaufen Pflegte und es an Kriterien fehlte, das Geschicht¬ liche von dem sagenhaften auszuscheiden. Nicht umfassend genug angewandt, weil der Mythus lange an der Schwelle der Kindheitgeschichtc Jesu stehen blieb, später auch Jesu Lebensende, die Himmelfahrt, anzugreifen wagte, so daß nun Anfang und Ende von kritischen Zweifeln angefressen war, während der eigent¬ liche Kern von der Taufe bis zur Auferstehung immer noch unangetastet bleiben sollte, so daß man „durch das Prachtthor der Mythe in die evangelische Geschichte hinein und durch ein ähnliches wieder hinausfuhr, für das Dazwischenliegende aber mit den krummen und mühseligen Pfaden der natürlichen Erklärung sich begnügte." Strauß fand, wenn der Begriff des Mythus einmal zugelassen, lasse sich eine solche Schranke nirgends ziehen. Den Begriff des Mythus also aus den ganzen Umfang der Lebensgeschichte Jesu anzuwenden, in allen Theilen

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde im Rahmen des Moduls DTA-Erweiterungen (DTAE) digitalisiert. Weitere Informationen …

Staats- und Universitätsbibliothek (SuUB) Bremen: Bereitstellung der Texttranskription.
Kay-Michael Würzner: Bearbeitung der digitalen Edition.

Weitere Informationen:

Verfahren der Texterfassung: OCR mit Nachkorrektur.

Bogensignaturen: gekennzeichnet;Druckfehler: ignoriert;fremdsprachliches Material: nicht gekennzeichnet;Geminations-/Abkürzungsstriche: wie Vorlage;Hervorhebungen (Antiqua, Sperrschrift, Kursive etc.): nicht ausgezeichnet;i/j in Fraktur: wie Vorlage;I/J in Fraktur: wie Vorlage;Kolumnentitel: gekennzeichnet;Kustoden: gekennzeichnet;langes s (ſ): als s transkribiert;Normalisierungen: stillschweigend;rundes r (&#xa75b;): als r/et transkribiert;Seitenumbrüche markiert: ja;Silbentrennung: wie Vorlage;u/v bzw. U/V: wie Vorlage;Vokale mit übergest. e: als ä/ö/ü transkribiert;Vollständigkeit: vollständig erfasst;Zeichensetzung: wie Vorlage;Zeilenumbrüche markiert: ja;

Nachkorrektur erfolgte automatisch.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341799_188560
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341799_188560/52
Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 23, 1864, I. Semester. II. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341799_188560/52>, abgerufen am 23.07.2024.