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Die Grenzboten. Jg. 23, 1864, I. Semester. II. Band.

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"Christenthum der drei ersten Jahrhunderte" das urchristliche Bewußtsein und
Princip, wie es einerseits durch den Gang der vorchristlichen Religionen und
Geschichte vorbereitet war. andrerseits in Jesus als ein Neues erschien, aus
dem ersten Evangelium abzuleiten. Bei seinem mehr ans das Große, Allgemeine,
Wesentliche gerichteten Sinne verzichtete Baur darauf, der individuellen Ent¬
wicklung Jesu naher nachzugehen und gab diese Seite weiterer Forschung anheim.
Keim in seiner kleinen Schrift "die menschliche Entwicklung Jesu Christi" be¬
mühte sich dann, gleichfalls auf Grund des ersten Evangeliums, den Gang der
Psychologischen Entwickelung Jesu nachzuweisen, ohne indessen mit der Mensch¬
heit Jesu ganzen Ernst zu machen. Letzteres ist dagegen das wesentliche Ver¬
dienst in Schenkels "Charakterbild Jesu", in welchem mit Grundlegung des
zweiten Evangeliums, nur mit zu weit gehender Hereinziehung fast des ganzen
evangelischen Erzählungsstosfs das Leben Jesu, vorzugsweise nach der Seite
seiner Lehrwirksamkeit hin, als ein echt menschliches dargestellt wird. Strauß
endlich stellte sich, die Resultate der kritischen Forschung zusammenfassend, die
Aufgabe wieder weiter, verzichtete aber auch ausdrücklich auf eine eigentliche
Lebensbeschreibung, sondern zeichnete von dieser nur einen Umriß, worin er
auf jedem Punkte den gegenwärtigen Stand der Wissenschaft ermittelte, das
Wahrscheinliche erhob und so mehr erörternd als erzählend die Grenzlinien be¬
zeichnete, welche uns für die Kenntniß dieser Geschichte gesteckt sind. Das
straußsche Buch bezeichnet genau das Maß unsres historischen Wissens vom
Leben Jesu. Aber gerade der Charakter seiner Darstellung und die ganze An¬
lage des Werks, in welchem der geschichtliche Umriß nur der Hauptaufgabe
vorausgeschickt ist, nämlich der, die allmälige Bildung des ungeschichtlichen
Lebens Jesu aufzuzeigen, ist der beste Beweis, daß das Leben Jesu wenigstens
zur Zeit noch mehr ein Gegenstand der Kritik als der Darstellung ist. Vielleicht
daß dereinst ein überlegener Geist, der die Schärfe und Klarheit, die unbestech¬
liche Gewissenhaftigkeit eines Strauß mit Nenanscher Intuition verbindet, eine
Geschichte Jesu von Nazareth schreibt. Inzwischen aber mag uns der Gedanke
entschädigen, daß das Christenthum die Religion des Geistes ist, welche ihren
universellen, ewigen Charakter auch schon darin zeigt, daß die persönlichen und
zeitlichen Bedingungen seiner ersten Existenz sich in ein Dunkel verloren haben,
in das wir nur noch einzudringen vermögen, um das, was nicht war, nicht
mehr dasjenige, was war, mit Sicherheit zu erkennen.




„Christenthum der drei ersten Jahrhunderte" das urchristliche Bewußtsein und
Princip, wie es einerseits durch den Gang der vorchristlichen Religionen und
Geschichte vorbereitet war. andrerseits in Jesus als ein Neues erschien, aus
dem ersten Evangelium abzuleiten. Bei seinem mehr ans das Große, Allgemeine,
Wesentliche gerichteten Sinne verzichtete Baur darauf, der individuellen Ent¬
wicklung Jesu naher nachzugehen und gab diese Seite weiterer Forschung anheim.
Keim in seiner kleinen Schrift „die menschliche Entwicklung Jesu Christi" be¬
mühte sich dann, gleichfalls auf Grund des ersten Evangeliums, den Gang der
Psychologischen Entwickelung Jesu nachzuweisen, ohne indessen mit der Mensch¬
heit Jesu ganzen Ernst zu machen. Letzteres ist dagegen das wesentliche Ver¬
dienst in Schenkels „Charakterbild Jesu", in welchem mit Grundlegung des
zweiten Evangeliums, nur mit zu weit gehender Hereinziehung fast des ganzen
evangelischen Erzählungsstosfs das Leben Jesu, vorzugsweise nach der Seite
seiner Lehrwirksamkeit hin, als ein echt menschliches dargestellt wird. Strauß
endlich stellte sich, die Resultate der kritischen Forschung zusammenfassend, die
Aufgabe wieder weiter, verzichtete aber auch ausdrücklich auf eine eigentliche
Lebensbeschreibung, sondern zeichnete von dieser nur einen Umriß, worin er
auf jedem Punkte den gegenwärtigen Stand der Wissenschaft ermittelte, das
Wahrscheinliche erhob und so mehr erörternd als erzählend die Grenzlinien be¬
zeichnete, welche uns für die Kenntniß dieser Geschichte gesteckt sind. Das
straußsche Buch bezeichnet genau das Maß unsres historischen Wissens vom
Leben Jesu. Aber gerade der Charakter seiner Darstellung und die ganze An¬
lage des Werks, in welchem der geschichtliche Umriß nur der Hauptaufgabe
vorausgeschickt ist, nämlich der, die allmälige Bildung des ungeschichtlichen
Lebens Jesu aufzuzeigen, ist der beste Beweis, daß das Leben Jesu wenigstens
zur Zeit noch mehr ein Gegenstand der Kritik als der Darstellung ist. Vielleicht
daß dereinst ein überlegener Geist, der die Schärfe und Klarheit, die unbestech¬
liche Gewissenhaftigkeit eines Strauß mit Nenanscher Intuition verbindet, eine
Geschichte Jesu von Nazareth schreibt. Inzwischen aber mag uns der Gedanke
entschädigen, daß das Christenthum die Religion des Geistes ist, welche ihren
universellen, ewigen Charakter auch schon darin zeigt, daß die persönlichen und
zeitlichen Bedingungen seiner ersten Existenz sich in ein Dunkel verloren haben,
in das wir nur noch einzudringen vermögen, um das, was nicht war, nicht
mehr dasjenige, was war, mit Sicherheit zu erkennen.




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[0439] „Christenthum der drei ersten Jahrhunderte" das urchristliche Bewußtsein und Princip, wie es einerseits durch den Gang der vorchristlichen Religionen und Geschichte vorbereitet war. andrerseits in Jesus als ein Neues erschien, aus dem ersten Evangelium abzuleiten. Bei seinem mehr ans das Große, Allgemeine, Wesentliche gerichteten Sinne verzichtete Baur darauf, der individuellen Ent¬ wicklung Jesu naher nachzugehen und gab diese Seite weiterer Forschung anheim. Keim in seiner kleinen Schrift „die menschliche Entwicklung Jesu Christi" be¬ mühte sich dann, gleichfalls auf Grund des ersten Evangeliums, den Gang der Psychologischen Entwickelung Jesu nachzuweisen, ohne indessen mit der Mensch¬ heit Jesu ganzen Ernst zu machen. Letzteres ist dagegen das wesentliche Ver¬ dienst in Schenkels „Charakterbild Jesu", in welchem mit Grundlegung des zweiten Evangeliums, nur mit zu weit gehender Hereinziehung fast des ganzen evangelischen Erzählungsstosfs das Leben Jesu, vorzugsweise nach der Seite seiner Lehrwirksamkeit hin, als ein echt menschliches dargestellt wird. Strauß endlich stellte sich, die Resultate der kritischen Forschung zusammenfassend, die Aufgabe wieder weiter, verzichtete aber auch ausdrücklich auf eine eigentliche Lebensbeschreibung, sondern zeichnete von dieser nur einen Umriß, worin er auf jedem Punkte den gegenwärtigen Stand der Wissenschaft ermittelte, das Wahrscheinliche erhob und so mehr erörternd als erzählend die Grenzlinien be¬ zeichnete, welche uns für die Kenntniß dieser Geschichte gesteckt sind. Das straußsche Buch bezeichnet genau das Maß unsres historischen Wissens vom Leben Jesu. Aber gerade der Charakter seiner Darstellung und die ganze An¬ lage des Werks, in welchem der geschichtliche Umriß nur der Hauptaufgabe vorausgeschickt ist, nämlich der, die allmälige Bildung des ungeschichtlichen Lebens Jesu aufzuzeigen, ist der beste Beweis, daß das Leben Jesu wenigstens zur Zeit noch mehr ein Gegenstand der Kritik als der Darstellung ist. Vielleicht daß dereinst ein überlegener Geist, der die Schärfe und Klarheit, die unbestech¬ liche Gewissenhaftigkeit eines Strauß mit Nenanscher Intuition verbindet, eine Geschichte Jesu von Nazareth schreibt. Inzwischen aber mag uns der Gedanke entschädigen, daß das Christenthum die Religion des Geistes ist, welche ihren universellen, ewigen Charakter auch schon darin zeigt, daß die persönlichen und zeitlichen Bedingungen seiner ersten Existenz sich in ein Dunkel verloren haben, in das wir nur noch einzudringen vermögen, um das, was nicht war, nicht mehr dasjenige, was war, mit Sicherheit zu erkennen.

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 23, 1864, I. Semester. II. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341799_188560/439>, abgerufen am 25.08.2024.