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Die Grenzboten. Jg. 23, 1864, I. Semester. II. Band.

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einen geschichtlichen Kern enthalten; sie hat im Evangelium eine dogmatische
Färbung oder Pointe erhalten, aber sie muß deswegen noch nicht reines Product
absichtlicher Combination sein. Dazu kommt, daß, was in anderen Fällen für
den Mangel an zuverlässigen Nachrichten einigermaßen entschädigen kann, nämlich
der Rückschluß von den Wirkungen auf die Ursache, in diesem Falle seine be
sonderer Schwierigkeiten hat. Wir können vom Urchristenthum, wie es sich
uns darstellt, nicht unmittelbar auf Jesus zurückschießen. Denn der Zusammen¬
hang ist nirgends ein unmittelbarer, er ist, auf welchem Punkt wir ihn auch
zu fassen versuchen, immer schon durch jene Schicht von religiösen Bildungen
und Reflexionen vermittelt, welche überhaupt zwischen der geschichtlichen Gestalt
Jesu und unsrer Erkenntniß stehen. Zudem geht das Urchristenthum selbst so¬
fort in eine Mannigfaltigkeit verschiedener Richtungen auseinander, und gerade
die älteste derselben, welche dem Leben Jesu am nächsten steht, sind wir am
wenigsten berechtigt ohne Weiteres mit seiner eignen Richtung zu identificiren.
Da nun andererseits die Ausbeute aus profanen Quellen für das eigentliche
Leben Jesu fast Null ist, so wird man wohl auf eine eigentliche Biographie
Jesu im Sinn der modernen Anforderungen an eine Biographie verzichten
müssen. Wird die Aufgabe in dieser Weise gestellt, so sind der Lücken zu viele,
die nur durch subjective Combination auszufüllen sind, es sind zu viele wesent¬
liche Punkte vorhanden, wo der Geschichtschreiber sich entscheiden sollte und wo
er nach Prüfung der Acten doch nur ein Vielleicht aussprechen kann.' Ein Ver¬
such, wie ihn der kecke Franzose gemacht hat, wird, auch wenn sein kritischer
Unterbau solider wäre, als bei Renan wirklich der Fall ist, doch immer nur
ein subjektives Zeitproduct sein, charakteristischer für die Zeit, in der es ent¬
standen ist und verschlungen wird, als auffallend für die Zeit, welche es beschreibt.
Die Genialität seines Wurfs soll unangetastet bleiben, und der erste Versuch,
in großen Zügen ein Leben Jesu des Menschen zu schreiben wird seine dauernde
Stelle behalten. Aber für die streng historische Kenntniß ist doch dasjenige von
ungleich größeren Gewinn, was in weit bescheideneren Grenzen in den letzten
Jahren die deutsche Wissenschaft gethan hat. Wir haben gesehen, daß die
synoptische Darstellung den Vorzug verhältnißmäßig größerer geschichtlicher Treue
hat; insbesondere glaubten wir dies vou Matthäus, dem ersten Evangelisten,
sagen zu dürfen, und bei diesem sind es wiederum die Reden Jesu, welche uns
im Allgemeinen noch in ursprünglicher Form erhalten sind. Hier ist der feste
Punkt, welchen die Kritik der aufbauenden Geschichte angewiesen hat. Gelingt
es uns nicht mehr ein Leben Jesu zuschreiben, so gelingt es uns doch vielleicht
nach behutsamer Prüfung und Abwägung aller Momente, noch ein Bild von
dem religiösen Bewußtsein Jesu, von dem Geist seiner Lehre herzustellen, und
wenn uns dies gelänge, so hätten wir ja doch wohl das Wesentliche von Jesu
weltgeschichtlicher Bedeutung erfaßt. In diesem Sinne versuchte Baur in seinem


einen geschichtlichen Kern enthalten; sie hat im Evangelium eine dogmatische
Färbung oder Pointe erhalten, aber sie muß deswegen noch nicht reines Product
absichtlicher Combination sein. Dazu kommt, daß, was in anderen Fällen für
den Mangel an zuverlässigen Nachrichten einigermaßen entschädigen kann, nämlich
der Rückschluß von den Wirkungen auf die Ursache, in diesem Falle seine be
sonderer Schwierigkeiten hat. Wir können vom Urchristenthum, wie es sich
uns darstellt, nicht unmittelbar auf Jesus zurückschießen. Denn der Zusammen¬
hang ist nirgends ein unmittelbarer, er ist, auf welchem Punkt wir ihn auch
zu fassen versuchen, immer schon durch jene Schicht von religiösen Bildungen
und Reflexionen vermittelt, welche überhaupt zwischen der geschichtlichen Gestalt
Jesu und unsrer Erkenntniß stehen. Zudem geht das Urchristenthum selbst so¬
fort in eine Mannigfaltigkeit verschiedener Richtungen auseinander, und gerade
die älteste derselben, welche dem Leben Jesu am nächsten steht, sind wir am
wenigsten berechtigt ohne Weiteres mit seiner eignen Richtung zu identificiren.
Da nun andererseits die Ausbeute aus profanen Quellen für das eigentliche
Leben Jesu fast Null ist, so wird man wohl auf eine eigentliche Biographie
Jesu im Sinn der modernen Anforderungen an eine Biographie verzichten
müssen. Wird die Aufgabe in dieser Weise gestellt, so sind der Lücken zu viele,
die nur durch subjective Combination auszufüllen sind, es sind zu viele wesent¬
liche Punkte vorhanden, wo der Geschichtschreiber sich entscheiden sollte und wo
er nach Prüfung der Acten doch nur ein Vielleicht aussprechen kann.' Ein Ver¬
such, wie ihn der kecke Franzose gemacht hat, wird, auch wenn sein kritischer
Unterbau solider wäre, als bei Renan wirklich der Fall ist, doch immer nur
ein subjektives Zeitproduct sein, charakteristischer für die Zeit, in der es ent¬
standen ist und verschlungen wird, als auffallend für die Zeit, welche es beschreibt.
Die Genialität seines Wurfs soll unangetastet bleiben, und der erste Versuch,
in großen Zügen ein Leben Jesu des Menschen zu schreiben wird seine dauernde
Stelle behalten. Aber für die streng historische Kenntniß ist doch dasjenige von
ungleich größeren Gewinn, was in weit bescheideneren Grenzen in den letzten
Jahren die deutsche Wissenschaft gethan hat. Wir haben gesehen, daß die
synoptische Darstellung den Vorzug verhältnißmäßig größerer geschichtlicher Treue
hat; insbesondere glaubten wir dies vou Matthäus, dem ersten Evangelisten,
sagen zu dürfen, und bei diesem sind es wiederum die Reden Jesu, welche uns
im Allgemeinen noch in ursprünglicher Form erhalten sind. Hier ist der feste
Punkt, welchen die Kritik der aufbauenden Geschichte angewiesen hat. Gelingt
es uns nicht mehr ein Leben Jesu zuschreiben, so gelingt es uns doch vielleicht
nach behutsamer Prüfung und Abwägung aller Momente, noch ein Bild von
dem religiösen Bewußtsein Jesu, von dem Geist seiner Lehre herzustellen, und
wenn uns dies gelänge, so hätten wir ja doch wohl das Wesentliche von Jesu
weltgeschichtlicher Bedeutung erfaßt. In diesem Sinne versuchte Baur in seinem


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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 23, 1864, I. Semester. II. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341799_188560/438>, abgerufen am 23.07.2024.