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Die Grenzboten. Jg. 23, 1864, I. Semester. II. Band.

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wenige Quellen benutzte. Nur sind uns seine Bereicherungen der evangelischen
Geschichte in dem Maße historisch verdächtig, als sie mit seiner dogmatischen
Tendenz zusammenhängen. Und wenn wir zum Beispiel seine Erzählung von
den siebzig Jüngern unbedenklich aus Rechnung dogmatischer Absichtlichkeit setzen,
sei es des Evangelisten selbst, oder der Quelle, welcher er sie entnommen hat,
so sind wir auch bei den ihm eigenthümlichen Parabeln, welche so sichtlich
paulinischcs Gepräge tragen, nicht sicher, ob wir sie bis auf Jesus zurückführen
dürfen. Am wenigsten ist dein Ausgeführten zufolge das Johannesevangelium
als geschichtliche Quelle zu gebrauchen. Bei ihm ist es ganz unverkennbar,
daß, was er Eigenes und von den Synoptikern Abweichendes hat, in seiner
speculativen Umbildung des Evangelienstoffs seine Wurzel hat. Thatsächliches
wird sich ihm also ebensowenig entnehmen lassen, als die von ihm compomrten
Reden Jesu, die von den synoptischen so durchaus verschieden sind, einen ge¬
schichtlichen Beitrag zur Charakteristik Jesu und seiner Lehre liefern. Nur er¬
hebt sich bei ihm dieselbe oder vielmehr die entgegengesetzte Frage, wie bei
Matthäus. Dieser steht, obwohl Jesu am nächsten, doch auf einem Stand¬
punkt, der an dessen geistige Höhe nicht hinanreicht. Umgekehrt kann Johannes,
obwohl Jesu zeitlich am fernsten stehend, doch geistig ihm näher gekommen sein
als die urapostolische Zeit. Es mag, wie Strauß bezeichnend sich ausdrückt,
"der vierte Evangelist seinen höheren Standpunkt immerhin auf einer aus
Alexandrien entlehnten Leiter erstiegen haben, er könnte darum doch mittelst
dieser fremden Leiter dem eignen Standpunkt Jesu näher gekommen sein; und
wenn wir den Spruch von der Unvergänglichkeit jedes kleinsten Buchstabens im
Gesetz bei Matthäus, und den von der Anbetung Gottes im Geist und in der
Wahrheit bei Johannes als zwei äußerste Punkte aufstellen, so ist noch sehr
die Frage, welchem von diesen beiden Punkten wir uns den geschichtlichen Jesus
näher zu denken haben." Einen ähnlichen Gedanken drückt Schenkel in den
Worten aus: "Jesus war nickt an den einzelne" Punkten seiner Lebens¬
entwickelung so, wie der vierte Evangelist ihn schildert; aber er war so in der
Tiefe und auf der Höhe seines Wirkens; er war nicht immer so in Wirklichkeit,
aber er war doch so in Wahrheit."

Dies ist also die Beschaffenheit unserer Quellen. Die Schwierigkeit einer
geschichtlichen Darstellung mit diesen Mitteln ergiebt sich von selbst. Scheidet
man einerseits, wie es die Geschichte thun muß, die wunderhaften Elemente
aus, andrerseits dasjenige, was erst in den dogmatischen Interessen einer späteren
Zeit seinen Ursprung hat. so wird der Kreis dessen, was als brauchbares, in,t
Zuverlässigkeit zu verwendendes Material zurückbleibt, überaus eng gezogen.
Und das Mißlichste dabei ist, daß sich die Linien zwischen dem Geschichtlichen
und Ungeschichtlichen nie scharf ziehen lassen. Denn eine Erzählung kann in
der uns vorliegenden Gestalt mythisch, ungeschichtlich sein, sie kann aber


wenige Quellen benutzte. Nur sind uns seine Bereicherungen der evangelischen
Geschichte in dem Maße historisch verdächtig, als sie mit seiner dogmatischen
Tendenz zusammenhängen. Und wenn wir zum Beispiel seine Erzählung von
den siebzig Jüngern unbedenklich aus Rechnung dogmatischer Absichtlichkeit setzen,
sei es des Evangelisten selbst, oder der Quelle, welcher er sie entnommen hat,
so sind wir auch bei den ihm eigenthümlichen Parabeln, welche so sichtlich
paulinischcs Gepräge tragen, nicht sicher, ob wir sie bis auf Jesus zurückführen
dürfen. Am wenigsten ist dein Ausgeführten zufolge das Johannesevangelium
als geschichtliche Quelle zu gebrauchen. Bei ihm ist es ganz unverkennbar,
daß, was er Eigenes und von den Synoptikern Abweichendes hat, in seiner
speculativen Umbildung des Evangelienstoffs seine Wurzel hat. Thatsächliches
wird sich ihm also ebensowenig entnehmen lassen, als die von ihm compomrten
Reden Jesu, die von den synoptischen so durchaus verschieden sind, einen ge¬
schichtlichen Beitrag zur Charakteristik Jesu und seiner Lehre liefern. Nur er¬
hebt sich bei ihm dieselbe oder vielmehr die entgegengesetzte Frage, wie bei
Matthäus. Dieser steht, obwohl Jesu am nächsten, doch auf einem Stand¬
punkt, der an dessen geistige Höhe nicht hinanreicht. Umgekehrt kann Johannes,
obwohl Jesu zeitlich am fernsten stehend, doch geistig ihm näher gekommen sein
als die urapostolische Zeit. Es mag, wie Strauß bezeichnend sich ausdrückt,
„der vierte Evangelist seinen höheren Standpunkt immerhin auf einer aus
Alexandrien entlehnten Leiter erstiegen haben, er könnte darum doch mittelst
dieser fremden Leiter dem eignen Standpunkt Jesu näher gekommen sein; und
wenn wir den Spruch von der Unvergänglichkeit jedes kleinsten Buchstabens im
Gesetz bei Matthäus, und den von der Anbetung Gottes im Geist und in der
Wahrheit bei Johannes als zwei äußerste Punkte aufstellen, so ist noch sehr
die Frage, welchem von diesen beiden Punkten wir uns den geschichtlichen Jesus
näher zu denken haben." Einen ähnlichen Gedanken drückt Schenkel in den
Worten aus: „Jesus war nickt an den einzelne» Punkten seiner Lebens¬
entwickelung so, wie der vierte Evangelist ihn schildert; aber er war so in der
Tiefe und auf der Höhe seines Wirkens; er war nicht immer so in Wirklichkeit,
aber er war doch so in Wahrheit."

Dies ist also die Beschaffenheit unserer Quellen. Die Schwierigkeit einer
geschichtlichen Darstellung mit diesen Mitteln ergiebt sich von selbst. Scheidet
man einerseits, wie es die Geschichte thun muß, die wunderhaften Elemente
aus, andrerseits dasjenige, was erst in den dogmatischen Interessen einer späteren
Zeit seinen Ursprung hat. so wird der Kreis dessen, was als brauchbares, in,t
Zuverlässigkeit zu verwendendes Material zurückbleibt, überaus eng gezogen.
Und das Mißlichste dabei ist, daß sich die Linien zwischen dem Geschichtlichen
und Ungeschichtlichen nie scharf ziehen lassen. Denn eine Erzählung kann in
der uns vorliegenden Gestalt mythisch, ungeschichtlich sein, sie kann aber


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[0437] wenige Quellen benutzte. Nur sind uns seine Bereicherungen der evangelischen Geschichte in dem Maße historisch verdächtig, als sie mit seiner dogmatischen Tendenz zusammenhängen. Und wenn wir zum Beispiel seine Erzählung von den siebzig Jüngern unbedenklich aus Rechnung dogmatischer Absichtlichkeit setzen, sei es des Evangelisten selbst, oder der Quelle, welcher er sie entnommen hat, so sind wir auch bei den ihm eigenthümlichen Parabeln, welche so sichtlich paulinischcs Gepräge tragen, nicht sicher, ob wir sie bis auf Jesus zurückführen dürfen. Am wenigsten ist dein Ausgeführten zufolge das Johannesevangelium als geschichtliche Quelle zu gebrauchen. Bei ihm ist es ganz unverkennbar, daß, was er Eigenes und von den Synoptikern Abweichendes hat, in seiner speculativen Umbildung des Evangelienstoffs seine Wurzel hat. Thatsächliches wird sich ihm also ebensowenig entnehmen lassen, als die von ihm compomrten Reden Jesu, die von den synoptischen so durchaus verschieden sind, einen ge¬ schichtlichen Beitrag zur Charakteristik Jesu und seiner Lehre liefern. Nur er¬ hebt sich bei ihm dieselbe oder vielmehr die entgegengesetzte Frage, wie bei Matthäus. Dieser steht, obwohl Jesu am nächsten, doch auf einem Stand¬ punkt, der an dessen geistige Höhe nicht hinanreicht. Umgekehrt kann Johannes, obwohl Jesu zeitlich am fernsten stehend, doch geistig ihm näher gekommen sein als die urapostolische Zeit. Es mag, wie Strauß bezeichnend sich ausdrückt, „der vierte Evangelist seinen höheren Standpunkt immerhin auf einer aus Alexandrien entlehnten Leiter erstiegen haben, er könnte darum doch mittelst dieser fremden Leiter dem eignen Standpunkt Jesu näher gekommen sein; und wenn wir den Spruch von der Unvergänglichkeit jedes kleinsten Buchstabens im Gesetz bei Matthäus, und den von der Anbetung Gottes im Geist und in der Wahrheit bei Johannes als zwei äußerste Punkte aufstellen, so ist noch sehr die Frage, welchem von diesen beiden Punkten wir uns den geschichtlichen Jesus näher zu denken haben." Einen ähnlichen Gedanken drückt Schenkel in den Worten aus: „Jesus war nickt an den einzelne» Punkten seiner Lebens¬ entwickelung so, wie der vierte Evangelist ihn schildert; aber er war so in der Tiefe und auf der Höhe seines Wirkens; er war nicht immer so in Wirklichkeit, aber er war doch so in Wahrheit." Dies ist also die Beschaffenheit unserer Quellen. Die Schwierigkeit einer geschichtlichen Darstellung mit diesen Mitteln ergiebt sich von selbst. Scheidet man einerseits, wie es die Geschichte thun muß, die wunderhaften Elemente aus, andrerseits dasjenige, was erst in den dogmatischen Interessen einer späteren Zeit seinen Ursprung hat. so wird der Kreis dessen, was als brauchbares, in,t Zuverlässigkeit zu verwendendes Material zurückbleibt, überaus eng gezogen. Und das Mißlichste dabei ist, daß sich die Linien zwischen dem Geschichtlichen und Ungeschichtlichen nie scharf ziehen lassen. Denn eine Erzählung kann in der uns vorliegenden Gestalt mythisch, ungeschichtlich sein, sie kann aber

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 23, 1864, I. Semester. II. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341799_188560/437>, abgerufen am 23.07.2024.