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Die Grenzboten. Jg. 23, 1864, I. Semester. II. Band.

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einer zur Verherrlichung der judaistischcn Urgemeinde verfaßten Schrift; den
Thaten des Petrus sind die des Paulus als ebenbürtig zur Seite gesetzt, und
eine Vermittlung beider Richtungen wird dadurch angestrebt, daß die juden¬
christliche Tradition nicht verworfen, aber in universalistischem Sinn umgebildet
und ihr als volles Gegengewicht die Schilderung der Wirksamkeit des Heiden¬
apostels gegenübergestellt wird. Gleichberechtigung ist also zunächst die Tendenz,
aber der Erfolg führt weit über sie hinaus. Das Gleichgewicht ist nur schein¬
bar, es gewinnt vielmehr der Paulinismus. Denn indem dieser sein volles
Recht zur Seite des älteren Bruders erhält, verliert der letztere sein altes Recht,
d. h. die Exklusivität, die er für sich beanspruchte. Ganz dasselbe Verfahren,
mit demselben Erfolge hatte der Verfasser in seiner Evangelienschrift angewendet.
Einem schroffen Pauliner konnte es freilich nicht völlig genügen, weswegen der
überpaulinische Marcion das Lucasevangelium erst purificirtc, d. h. von allen
Stücken reinigte, die noch an die judenchristliche Tradition erinnerten, bevor
er es als das wahre Evangelium betrachten konnte.

Ein Auszug aus den Evangelien des Matthäus und Lucas ist nun das
des Marcus. Sein Inhalt geht fast gänzlich in dem der beiden andern auf,
so daß nur für wenige Stücke die etwaige Benutzung anderweitiger Quellen
in Frage kommt. Der Zweck seiner Abfassung war ohne Zweifel ein praktischer;
es sollte ein kurzes Compendium für den kirchliche" Gebrauch sein, ein Auszug,
worin alles Wesentliche zusammengestellt, alles Unwesentliche ausgeschieden
werden sollte. Diese Absicht' traf aber zugleich mit dem dogmatischen Stand¬
punkt der späteren Zeit zusammen. Denn wenn es beim Gebrauch der beiden
ersten Evangelien zuweilen anstößig sein mochte, daß der judaistische Stand¬
punkt des ersten zu dem universellen des zweiten nicht recht stimmen wollte, so
hatte die Zeit der sich bildenden katholischen Kirche -- und dieser gehört die
Redaction des Marcus an -- ein Interesse, alle diejenigen Stücke wegzulassen
welche an jenen überwundenen Gegensatz erinnerten und nach der einen oder
andern Seite Anstoß geben konnten. Der Verfasser des neuen Evangeliums
wollte also rein objectiv sein; er folgte dem Matthäus -- und dies ist sein
Hauptführer -- sofern es dessen judaistische Richtung zuließ, dem Lucas, sofern
dessen ausgesprochene paulinische Tendenz es gestattete. So läßt er, um an
Einzelnes zu erinnern, das jüdische Geschlechtsregister weg, an welchem die
Heidenchristen Anstoß nehmen konnten, aber ebenso die Geschichte von der über¬
natürlichen Erzeugung Jesu, welche einige judenchristliche Sekten beanstandeten.
So ignorirt er völlig die Bergrede, weil die Controverse über das Gesetz seiner
freieren Stellung zum A. T. nicht zusagte, aber auch von den siebzig Jüngern
weiß er nichts, weil diese Erzählung zu tief in den Paulinismus des Lucas-
evangeliums eingreift. So geht er an dem Ausspruch Jesu von der Fortdauer
des Gesetzes, an dem Verbot für die Jünger, sich zu den Heiden zu wenden,


einer zur Verherrlichung der judaistischcn Urgemeinde verfaßten Schrift; den
Thaten des Petrus sind die des Paulus als ebenbürtig zur Seite gesetzt, und
eine Vermittlung beider Richtungen wird dadurch angestrebt, daß die juden¬
christliche Tradition nicht verworfen, aber in universalistischem Sinn umgebildet
und ihr als volles Gegengewicht die Schilderung der Wirksamkeit des Heiden¬
apostels gegenübergestellt wird. Gleichberechtigung ist also zunächst die Tendenz,
aber der Erfolg führt weit über sie hinaus. Das Gleichgewicht ist nur schein¬
bar, es gewinnt vielmehr der Paulinismus. Denn indem dieser sein volles
Recht zur Seite des älteren Bruders erhält, verliert der letztere sein altes Recht,
d. h. die Exklusivität, die er für sich beanspruchte. Ganz dasselbe Verfahren,
mit demselben Erfolge hatte der Verfasser in seiner Evangelienschrift angewendet.
Einem schroffen Pauliner konnte es freilich nicht völlig genügen, weswegen der
überpaulinische Marcion das Lucasevangelium erst purificirtc, d. h. von allen
Stücken reinigte, die noch an die judenchristliche Tradition erinnerten, bevor
er es als das wahre Evangelium betrachten konnte.

Ein Auszug aus den Evangelien des Matthäus und Lucas ist nun das
des Marcus. Sein Inhalt geht fast gänzlich in dem der beiden andern auf,
so daß nur für wenige Stücke die etwaige Benutzung anderweitiger Quellen
in Frage kommt. Der Zweck seiner Abfassung war ohne Zweifel ein praktischer;
es sollte ein kurzes Compendium für den kirchliche» Gebrauch sein, ein Auszug,
worin alles Wesentliche zusammengestellt, alles Unwesentliche ausgeschieden
werden sollte. Diese Absicht' traf aber zugleich mit dem dogmatischen Stand¬
punkt der späteren Zeit zusammen. Denn wenn es beim Gebrauch der beiden
ersten Evangelien zuweilen anstößig sein mochte, daß der judaistische Stand¬
punkt des ersten zu dem universellen des zweiten nicht recht stimmen wollte, so
hatte die Zeit der sich bildenden katholischen Kirche — und dieser gehört die
Redaction des Marcus an — ein Interesse, alle diejenigen Stücke wegzulassen
welche an jenen überwundenen Gegensatz erinnerten und nach der einen oder
andern Seite Anstoß geben konnten. Der Verfasser des neuen Evangeliums
wollte also rein objectiv sein; er folgte dem Matthäus — und dies ist sein
Hauptführer — sofern es dessen judaistische Richtung zuließ, dem Lucas, sofern
dessen ausgesprochene paulinische Tendenz es gestattete. So läßt er, um an
Einzelnes zu erinnern, das jüdische Geschlechtsregister weg, an welchem die
Heidenchristen Anstoß nehmen konnten, aber ebenso die Geschichte von der über¬
natürlichen Erzeugung Jesu, welche einige judenchristliche Sekten beanstandeten.
So ignorirt er völlig die Bergrede, weil die Controverse über das Gesetz seiner
freieren Stellung zum A. T. nicht zusagte, aber auch von den siebzig Jüngern
weiß er nichts, weil diese Erzählung zu tief in den Paulinismus des Lucas-
evangeliums eingreift. So geht er an dem Ausspruch Jesu von der Fortdauer
des Gesetzes, an dem Verbot für die Jünger, sich zu den Heiden zu wenden,


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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 23, 1864, I. Semester. II. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341799_188560/434>, abgerufen am 23.07.2024.