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Die Grenzboten. Jg. 23, 1864, I. Semester. II. Band.

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als das Interesse unverkennbar ist, welchem die Erzählung ihre Entstehung ver¬
dankt. Wie nämlich die zwölf Apostel eine Beziehung auf die zwölf Stämme
Israels hatten, so haben die siebzig Jünger eine Beziehung zu den heidnischen
Völkern, für welche die jüdische Tradition die Zahl siebzig festgestellt hatte.
Und zwar werden nun die Siebzig unverkennbar den Zwölfen nicht nur gleich,
sondern gegenüber, ja über sie gestellt. Die feierlichen Worte zur Einweihung
in den apostolischen Beruf, die bei Matthäus an die Zwölf gehalten werden,
sind bei Lucas für die Siebzig vorbehalten; sie find die wahren Arbeiter-im
Reiche Gottes, sie sind mit höchster Macht ausgestattet, und ihre Namen sind
im Himmel aufgeschrieben, während umgekehrt in einer Reihe von Scenen die
Unfähigkeit der jüdisch-particularistischen Zwölfjünger geschildert wird, Jesu wahre
Absichten zu fassen. Das Heidenchristenthum tritt' bereits auf in dem vollen
Bewußtsein seiner schon erlangten Bedeutung. Das Judenthum ist Finsternis?,
geistige Blindheit; das jüdische Volk ist der unfruchtbare Feigenbaum, welchem
nur noch eine Frist zur Besserung gestattet wird. Die Zerstörung Jerusalems,
welche in diesem Evangelium bereits in ziemlicher Ferne erscheint, ist der Anfang
der Strafgerichte, welche über das ungläubige Judenthum ergehen. Im Gegen¬
satz zum jüdischen Hochmuth wird der demüthige Glaube des heidnischen Cen¬
turio von Kapharnaum und die barmherzige Liebe des Samariters hervorgehoben.
Nicht den Weisen und Verständigen des Judenthums, sondern den Kindern der
Heidenwelt wird das Evangelium gebracht; anstatt der erstgcladcnen Juden
werden die Heiden in das Reich Gottes berufen werden, und das Heidenthum,
der verlorene Sohn, wird reuig in die Vaterarme aufgenommen, während der
ältere Sohn, der sich rühmt, so treu dem Vater gedient und kein Gebot über¬
treten zu haben, neidisch und scheelsüchtig daneben steht.

In dem zuletzt angezogenen Gleichniß ist zugleich eine Hindeutung aus den
Gegensatz zwischen Juden- und Heidenchristen nicht zu verkennen, und die Bevor¬
zugung der siebzig Jünger gegenüber den so ungünstig gezeichneten zwölf
Aposteln hat gleichfalls eine sehr praktische Beziehung auf den Apostel Paulus.
Denn wenn es außer den Zwölfen noch andere Jünger giebt, welche jenen im
Range nicht nachstehen, so ist damit auch dem Paulus die Stelle geliefert,
welche ihm die Urapostel und ihr Anhang so lange streitig machten. Wir haben
übrigens einige bestimmte Anzeichen für den Ursprung des Evangeliums in
einem paulinischen Kreise; dahin gehören namentlich die Einsctzungsworte des
Abendmahls, welche Lucas in derselben Fassung wiedergiebt, wie Paulus sie
den Korinthern mitgetheilt hatte, während Matthäus und Marcus hier ab¬
weichend referiren. Sonst wissen wir von dem Verfasser nichts, als daß er zu¬
gleich der Verfasser der Apostelgeschichte war. Aber eben dieser Umstand be¬
stätigt, was über die dogmatische Tendenz des Evangeliums gesagt ist. Denn
die Apostelgeschichte ist gleichfalls entstanden aus der paulinischen Überarbeitung


Grenzboten II. 1864. 64

als das Interesse unverkennbar ist, welchem die Erzählung ihre Entstehung ver¬
dankt. Wie nämlich die zwölf Apostel eine Beziehung auf die zwölf Stämme
Israels hatten, so haben die siebzig Jünger eine Beziehung zu den heidnischen
Völkern, für welche die jüdische Tradition die Zahl siebzig festgestellt hatte.
Und zwar werden nun die Siebzig unverkennbar den Zwölfen nicht nur gleich,
sondern gegenüber, ja über sie gestellt. Die feierlichen Worte zur Einweihung
in den apostolischen Beruf, die bei Matthäus an die Zwölf gehalten werden,
sind bei Lucas für die Siebzig vorbehalten; sie find die wahren Arbeiter-im
Reiche Gottes, sie sind mit höchster Macht ausgestattet, und ihre Namen sind
im Himmel aufgeschrieben, während umgekehrt in einer Reihe von Scenen die
Unfähigkeit der jüdisch-particularistischen Zwölfjünger geschildert wird, Jesu wahre
Absichten zu fassen. Das Heidenchristenthum tritt' bereits auf in dem vollen
Bewußtsein seiner schon erlangten Bedeutung. Das Judenthum ist Finsternis?,
geistige Blindheit; das jüdische Volk ist der unfruchtbare Feigenbaum, welchem
nur noch eine Frist zur Besserung gestattet wird. Die Zerstörung Jerusalems,
welche in diesem Evangelium bereits in ziemlicher Ferne erscheint, ist der Anfang
der Strafgerichte, welche über das ungläubige Judenthum ergehen. Im Gegen¬
satz zum jüdischen Hochmuth wird der demüthige Glaube des heidnischen Cen¬
turio von Kapharnaum und die barmherzige Liebe des Samariters hervorgehoben.
Nicht den Weisen und Verständigen des Judenthums, sondern den Kindern der
Heidenwelt wird das Evangelium gebracht; anstatt der erstgcladcnen Juden
werden die Heiden in das Reich Gottes berufen werden, und das Heidenthum,
der verlorene Sohn, wird reuig in die Vaterarme aufgenommen, während der
ältere Sohn, der sich rühmt, so treu dem Vater gedient und kein Gebot über¬
treten zu haben, neidisch und scheelsüchtig daneben steht.

In dem zuletzt angezogenen Gleichniß ist zugleich eine Hindeutung aus den
Gegensatz zwischen Juden- und Heidenchristen nicht zu verkennen, und die Bevor¬
zugung der siebzig Jünger gegenüber den so ungünstig gezeichneten zwölf
Aposteln hat gleichfalls eine sehr praktische Beziehung auf den Apostel Paulus.
Denn wenn es außer den Zwölfen noch andere Jünger giebt, welche jenen im
Range nicht nachstehen, so ist damit auch dem Paulus die Stelle geliefert,
welche ihm die Urapostel und ihr Anhang so lange streitig machten. Wir haben
übrigens einige bestimmte Anzeichen für den Ursprung des Evangeliums in
einem paulinischen Kreise; dahin gehören namentlich die Einsctzungsworte des
Abendmahls, welche Lucas in derselben Fassung wiedergiebt, wie Paulus sie
den Korinthern mitgetheilt hatte, während Matthäus und Marcus hier ab¬
weichend referiren. Sonst wissen wir von dem Verfasser nichts, als daß er zu¬
gleich der Verfasser der Apostelgeschichte war. Aber eben dieser Umstand be¬
stätigt, was über die dogmatische Tendenz des Evangeliums gesagt ist. Denn
die Apostelgeschichte ist gleichfalls entstanden aus der paulinischen Überarbeitung


Grenzboten II. 1864. 64
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[0433] als das Interesse unverkennbar ist, welchem die Erzählung ihre Entstehung ver¬ dankt. Wie nämlich die zwölf Apostel eine Beziehung auf die zwölf Stämme Israels hatten, so haben die siebzig Jünger eine Beziehung zu den heidnischen Völkern, für welche die jüdische Tradition die Zahl siebzig festgestellt hatte. Und zwar werden nun die Siebzig unverkennbar den Zwölfen nicht nur gleich, sondern gegenüber, ja über sie gestellt. Die feierlichen Worte zur Einweihung in den apostolischen Beruf, die bei Matthäus an die Zwölf gehalten werden, sind bei Lucas für die Siebzig vorbehalten; sie find die wahren Arbeiter-im Reiche Gottes, sie sind mit höchster Macht ausgestattet, und ihre Namen sind im Himmel aufgeschrieben, während umgekehrt in einer Reihe von Scenen die Unfähigkeit der jüdisch-particularistischen Zwölfjünger geschildert wird, Jesu wahre Absichten zu fassen. Das Heidenchristenthum tritt' bereits auf in dem vollen Bewußtsein seiner schon erlangten Bedeutung. Das Judenthum ist Finsternis?, geistige Blindheit; das jüdische Volk ist der unfruchtbare Feigenbaum, welchem nur noch eine Frist zur Besserung gestattet wird. Die Zerstörung Jerusalems, welche in diesem Evangelium bereits in ziemlicher Ferne erscheint, ist der Anfang der Strafgerichte, welche über das ungläubige Judenthum ergehen. Im Gegen¬ satz zum jüdischen Hochmuth wird der demüthige Glaube des heidnischen Cen¬ turio von Kapharnaum und die barmherzige Liebe des Samariters hervorgehoben. Nicht den Weisen und Verständigen des Judenthums, sondern den Kindern der Heidenwelt wird das Evangelium gebracht; anstatt der erstgcladcnen Juden werden die Heiden in das Reich Gottes berufen werden, und das Heidenthum, der verlorene Sohn, wird reuig in die Vaterarme aufgenommen, während der ältere Sohn, der sich rühmt, so treu dem Vater gedient und kein Gebot über¬ treten zu haben, neidisch und scheelsüchtig daneben steht. In dem zuletzt angezogenen Gleichniß ist zugleich eine Hindeutung aus den Gegensatz zwischen Juden- und Heidenchristen nicht zu verkennen, und die Bevor¬ zugung der siebzig Jünger gegenüber den so ungünstig gezeichneten zwölf Aposteln hat gleichfalls eine sehr praktische Beziehung auf den Apostel Paulus. Denn wenn es außer den Zwölfen noch andere Jünger giebt, welche jenen im Range nicht nachstehen, so ist damit auch dem Paulus die Stelle geliefert, welche ihm die Urapostel und ihr Anhang so lange streitig machten. Wir haben übrigens einige bestimmte Anzeichen für den Ursprung des Evangeliums in einem paulinischen Kreise; dahin gehören namentlich die Einsctzungsworte des Abendmahls, welche Lucas in derselben Fassung wiedergiebt, wie Paulus sie den Korinthern mitgetheilt hatte, während Matthäus und Marcus hier ab¬ weichend referiren. Sonst wissen wir von dem Verfasser nichts, als daß er zu¬ gleich der Verfasser der Apostelgeschichte war. Aber eben dieser Umstand be¬ stätigt, was über die dogmatische Tendenz des Evangeliums gesagt ist. Denn die Apostelgeschichte ist gleichfalls entstanden aus der paulinischen Überarbeitung Grenzboten II. 1864. 64

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 23, 1864, I. Semester. II. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341799_188560/433>, abgerufen am 23.07.2024.