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Die Grenzboten. Jg. 23, 1864, I. Semester. II. Band.

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und Auferstehnngsgeschichtc, und besonders eigenthümlich ist dem Lucas eine
Reihe zusammenhängender und sehr bedeutsamer Erzählungen, mit welchen er
die Reise Jesu durch Samaria ausgestattet hat.

Schon hieraus wird wahrscheinlich, daß Matthäus nicht die einzige Quelle
des Lucas gewesen ist. In der That sagt dieser selbst in seinem Vorwort, daß
er "viele" schriftliche Auszeichnungen vor sich hatte, die ihn aber nicht ganz
befriedigten. Er verräth sichtlich ein kritisches Interesse. Der gebildete Ver¬
fasser will den Schwankungen der christlichen Tradition ein Ende machen, die
durch die bisherigen schriftstellerischen Versuche keineswegs beseitigt, wurden,
Zuverlässigkeit und größere Vollständigkeit sind sein Augenmerk; gestützt auf
eigene Nachforschungen will er ein getreueres und ausgeführteres Bild, als bisher
vorhanden war, von der evangelischen Geschichte geben, er will sie mit einem
Wort nach den sonst geltenden Grundsätzen der Geschichtsschreibung bearbeiten.
Dieses schriftstellerische Interesse, das er nach seiner eigenen Angabe verfolgt,
zeigt sich nun besonders darin, daß er genauer motivirt, namentlich bei Reden
Jesu Zeit und Veranlassung bestimmter angiebt, die größeren Redegruppen bei
Matthäus, welche schon ihm ungeschichtlich schienen, auflöst, anschaulicher schil¬
dert, einen strengeren Gang der Erzählung einhält und bei Gelegenheit wohl
auch sein gelehrtes Wissen an den Mann zu bringen beflissen ist.

Weit wichtiger aber als diese formellen Eigenthümlichkeiten ist die mate¬
rielle Erweiterung, welche die evangelische Geschichte bei ihm erfährt und die
Tendenz, welche e/bei Abfassung seines Evangeliums verfolgt. Die Quellen,
welchen Lucas das Neue seines Stoffes entnimmt, sind großentheils juden¬
christliche Quellen, ja sie tragen zum Theil noch entschiedener dieses ' Gepräge,
als das Matthäusevangelium in seiner jetzigen Gestalt. Ganz natürlich. Wer
auf möglichste Vollständigkeit der evangelischen Geschichte ausging, konnte sich,
um Neues zu erfahren, nur an die palästinische Tradition halten, wo allein
ein reicherer Schatz der Erinnerung sich erhalten haben konnte. Allein wie
verfährt nun der Verfasser mit seinem Stoffe? Theils wird den judenchristlichen
Erzählungen eine Wendung im paulinischen Sinne gegeben, theils werden sie
durch Stücke rein paulinischen Charakters aufgewogen, und die Tendenz bei
diesem Verfahren kann keine andere sein^ als die Tradition zwar möglichst treu
und vollständig aufzunehmen, aber sie zugleich in Einklang zu setzen mit dem
Paulinischen Christenthum, und dieses zwar nicht in einseitiger Schroffheit als
alleinberechtigt, wohl aber mindestens als gleichberechtigt mit dem älteren petri-
nischen Christenthum darzustellen.

Auf streng judenchristliche Quellen weist uns z. B. die Fassung der Berg¬
rede mit ihrer Seligpreisung der "Armen" (wo Matthäus den offenbar spä¬
teren zur Verhütung von Mißverständnissen modificirten Ausdruck "Arme im
Geiste" hat) und mit ihrem "Weheruf über die Reichen", dann mehre Gleich-


und Auferstehnngsgeschichtc, und besonders eigenthümlich ist dem Lucas eine
Reihe zusammenhängender und sehr bedeutsamer Erzählungen, mit welchen er
die Reise Jesu durch Samaria ausgestattet hat.

Schon hieraus wird wahrscheinlich, daß Matthäus nicht die einzige Quelle
des Lucas gewesen ist. In der That sagt dieser selbst in seinem Vorwort, daß
er „viele" schriftliche Auszeichnungen vor sich hatte, die ihn aber nicht ganz
befriedigten. Er verräth sichtlich ein kritisches Interesse. Der gebildete Ver¬
fasser will den Schwankungen der christlichen Tradition ein Ende machen, die
durch die bisherigen schriftstellerischen Versuche keineswegs beseitigt, wurden,
Zuverlässigkeit und größere Vollständigkeit sind sein Augenmerk; gestützt auf
eigene Nachforschungen will er ein getreueres und ausgeführteres Bild, als bisher
vorhanden war, von der evangelischen Geschichte geben, er will sie mit einem
Wort nach den sonst geltenden Grundsätzen der Geschichtsschreibung bearbeiten.
Dieses schriftstellerische Interesse, das er nach seiner eigenen Angabe verfolgt,
zeigt sich nun besonders darin, daß er genauer motivirt, namentlich bei Reden
Jesu Zeit und Veranlassung bestimmter angiebt, die größeren Redegruppen bei
Matthäus, welche schon ihm ungeschichtlich schienen, auflöst, anschaulicher schil¬
dert, einen strengeren Gang der Erzählung einhält und bei Gelegenheit wohl
auch sein gelehrtes Wissen an den Mann zu bringen beflissen ist.

Weit wichtiger aber als diese formellen Eigenthümlichkeiten ist die mate¬
rielle Erweiterung, welche die evangelische Geschichte bei ihm erfährt und die
Tendenz, welche e/bei Abfassung seines Evangeliums verfolgt. Die Quellen,
welchen Lucas das Neue seines Stoffes entnimmt, sind großentheils juden¬
christliche Quellen, ja sie tragen zum Theil noch entschiedener dieses ' Gepräge,
als das Matthäusevangelium in seiner jetzigen Gestalt. Ganz natürlich. Wer
auf möglichste Vollständigkeit der evangelischen Geschichte ausging, konnte sich,
um Neues zu erfahren, nur an die palästinische Tradition halten, wo allein
ein reicherer Schatz der Erinnerung sich erhalten haben konnte. Allein wie
verfährt nun der Verfasser mit seinem Stoffe? Theils wird den judenchristlichen
Erzählungen eine Wendung im paulinischen Sinne gegeben, theils werden sie
durch Stücke rein paulinischen Charakters aufgewogen, und die Tendenz bei
diesem Verfahren kann keine andere sein^ als die Tradition zwar möglichst treu
und vollständig aufzunehmen, aber sie zugleich in Einklang zu setzen mit dem
Paulinischen Christenthum, und dieses zwar nicht in einseitiger Schroffheit als
alleinberechtigt, wohl aber mindestens als gleichberechtigt mit dem älteren petri-
nischen Christenthum darzustellen.

Auf streng judenchristliche Quellen weist uns z. B. die Fassung der Berg¬
rede mit ihrer Seligpreisung der „Armen" (wo Matthäus den offenbar spä¬
teren zur Verhütung von Mißverständnissen modificirten Ausdruck „Arme im
Geiste" hat) und mit ihrem „Weheruf über die Reichen", dann mehre Gleich-


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[0431] und Auferstehnngsgeschichtc, und besonders eigenthümlich ist dem Lucas eine Reihe zusammenhängender und sehr bedeutsamer Erzählungen, mit welchen er die Reise Jesu durch Samaria ausgestattet hat. Schon hieraus wird wahrscheinlich, daß Matthäus nicht die einzige Quelle des Lucas gewesen ist. In der That sagt dieser selbst in seinem Vorwort, daß er „viele" schriftliche Auszeichnungen vor sich hatte, die ihn aber nicht ganz befriedigten. Er verräth sichtlich ein kritisches Interesse. Der gebildete Ver¬ fasser will den Schwankungen der christlichen Tradition ein Ende machen, die durch die bisherigen schriftstellerischen Versuche keineswegs beseitigt, wurden, Zuverlässigkeit und größere Vollständigkeit sind sein Augenmerk; gestützt auf eigene Nachforschungen will er ein getreueres und ausgeführteres Bild, als bisher vorhanden war, von der evangelischen Geschichte geben, er will sie mit einem Wort nach den sonst geltenden Grundsätzen der Geschichtsschreibung bearbeiten. Dieses schriftstellerische Interesse, das er nach seiner eigenen Angabe verfolgt, zeigt sich nun besonders darin, daß er genauer motivirt, namentlich bei Reden Jesu Zeit und Veranlassung bestimmter angiebt, die größeren Redegruppen bei Matthäus, welche schon ihm ungeschichtlich schienen, auflöst, anschaulicher schil¬ dert, einen strengeren Gang der Erzählung einhält und bei Gelegenheit wohl auch sein gelehrtes Wissen an den Mann zu bringen beflissen ist. Weit wichtiger aber als diese formellen Eigenthümlichkeiten ist die mate¬ rielle Erweiterung, welche die evangelische Geschichte bei ihm erfährt und die Tendenz, welche e/bei Abfassung seines Evangeliums verfolgt. Die Quellen, welchen Lucas das Neue seines Stoffes entnimmt, sind großentheils juden¬ christliche Quellen, ja sie tragen zum Theil noch entschiedener dieses ' Gepräge, als das Matthäusevangelium in seiner jetzigen Gestalt. Ganz natürlich. Wer auf möglichste Vollständigkeit der evangelischen Geschichte ausging, konnte sich, um Neues zu erfahren, nur an die palästinische Tradition halten, wo allein ein reicherer Schatz der Erinnerung sich erhalten haben konnte. Allein wie verfährt nun der Verfasser mit seinem Stoffe? Theils wird den judenchristlichen Erzählungen eine Wendung im paulinischen Sinne gegeben, theils werden sie durch Stücke rein paulinischen Charakters aufgewogen, und die Tendenz bei diesem Verfahren kann keine andere sein^ als die Tradition zwar möglichst treu und vollständig aufzunehmen, aber sie zugleich in Einklang zu setzen mit dem Paulinischen Christenthum, und dieses zwar nicht in einseitiger Schroffheit als alleinberechtigt, wohl aber mindestens als gleichberechtigt mit dem älteren petri- nischen Christenthum darzustellen. Auf streng judenchristliche Quellen weist uns z. B. die Fassung der Berg¬ rede mit ihrer Seligpreisung der „Armen" (wo Matthäus den offenbar spä¬ teren zur Verhütung von Mißverständnissen modificirten Ausdruck „Arme im Geiste" hat) und mit ihrem „Weheruf über die Reichen", dann mehre Gleich-

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 23, 1864, I. Semester. II. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341799_188560/431>, abgerufen am 23.07.2024.