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Die Grenzboten. Jg. 23, 1864, I. Semester. II. Band.

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der reinen ErlösuuM'edürftigkcit. dieses Betonen der Reinheit und Lauterkeit
des Herzens, einer nicht in der äußern That, sondern in der Gesinnung be¬
stehenden Sittlichkeit ist zugleich das erste Aussprechen des wahrhaft christlichen
Geistes, und wenn dieses Neue in der Bergrede angeknüpft ist an die fort¬
dauernde Befolgung des Gesetzes, das nicht verworfen, aber durchaus in die
sittliche Sphäre erhoben wird, so hat sich auch darin ein geschichtliches Zeugniß
erhalten, nämlich ein Zeugniß sür die pädagogische Art des Auftretens Jesu
welcher an das mosaische Gesetz anknüpfte, aber in seinem Dringen auf das
Innere, in seiner nachdrücklichen Behauptung der Werthlosigl'eit alles äußeren
Scheins zugleich den künftigen Gegensatz zum Gesetz vorbereitete. Denn in
demselben Maß, in welchem die sittliche Gesinnung zur Hauptsache gemacht
wurde, verlor das Gesetz seineu absoluten Werth, und es war nur eine Frage
der Zeit, wann jenes Bewußtsein so sicher und übergreifend ^sein würde, um
geradezu deu Kampf gegen das Gesetz aufzunehmen.

Allein eben im Maithäusevangelium sind die Spuren einer Anschauung,
welche schon mit bewußter Freiheit über dem Gesetz stünde, noch am seltensten.
Vielmehr hängt hier das Christenthum noch am engsten mit dem Judenthum
zusammen, es trägt ein entschieden jüdisch-nationales Gepräge. Aus keinem
andern Evangelium erfahren wir so viel über das Verhältniß, in welches sich
Jesus zu dem Gesetz, zu den jüdischen Gebräuchen, zu den jüdischen Sekten
stellte. Jesus heißt hier ganz vorzugsweise der Sohn Davids, alle seine Thaten
und Schicksale sind die. Erfüllung alttestamentlicher Weissagungen, und eben
diese eingetroffenen Weissagungen sind dem Evangelisten der Beweis, daß Jesus
der Messias ist. Schon nach den Propheten mühte Jesus aus Nazareth kom¬
men und in Galiläa wirken, die Abstammung aus Davids und Abrahams
Geschlecht, die Geburt in Bethlehem, der Einzug in Jerusalem, die Leiden werden
auf prophetische Weissagung zurückgeführt, und so wird auch sein messianischer
Beruf, seine lehrende und erlösende Thätigkeit nach prophetischen Vorbildern
geschildert. Durch seine erlösende menschenfreundliche Liebe zu dem Volk, das
er vom Druck der pharisäischen Satzungen befreit, erweist er sich als der vom
Volk erhoffte Messias. Nicht gegen das Judenthum überhaupt ist sein Auf¬
treten gerichtet, wie dies später der Standpunkt des zweiten und besonders des
vierten Evangeliums ist, sondern nur gegen die hohem Classen, gegen die
Unterdrücker deö Volks, gegen die Pharisäer und Schriftgelehrten; nicht gegen
das Gesetz, aber gegen die später hinzugekommnen Lehren und Ueberlieferungen,
welche sich ohne Berechtigung in die echte Tradition eingedrängt haben. So
bewegt sich das Evangelium einerseits noch ganz auf altiestamentlichem Boden, aber
eben von diesem Boden aus bekämpft es dasjenige' Judenthum, welches nicht an
den bereits erschienenen Messias glauben will. Es ist eine Vertheidigung des
Christusglaubens gegen die ungläubige Feindschaft des herrschenden Judenthums.


der reinen ErlösuuM'edürftigkcit. dieses Betonen der Reinheit und Lauterkeit
des Herzens, einer nicht in der äußern That, sondern in der Gesinnung be¬
stehenden Sittlichkeit ist zugleich das erste Aussprechen des wahrhaft christlichen
Geistes, und wenn dieses Neue in der Bergrede angeknüpft ist an die fort¬
dauernde Befolgung des Gesetzes, das nicht verworfen, aber durchaus in die
sittliche Sphäre erhoben wird, so hat sich auch darin ein geschichtliches Zeugniß
erhalten, nämlich ein Zeugniß sür die pädagogische Art des Auftretens Jesu
welcher an das mosaische Gesetz anknüpfte, aber in seinem Dringen auf das
Innere, in seiner nachdrücklichen Behauptung der Werthlosigl'eit alles äußeren
Scheins zugleich den künftigen Gegensatz zum Gesetz vorbereitete. Denn in
demselben Maß, in welchem die sittliche Gesinnung zur Hauptsache gemacht
wurde, verlor das Gesetz seineu absoluten Werth, und es war nur eine Frage
der Zeit, wann jenes Bewußtsein so sicher und übergreifend ^sein würde, um
geradezu deu Kampf gegen das Gesetz aufzunehmen.

Allein eben im Maithäusevangelium sind die Spuren einer Anschauung,
welche schon mit bewußter Freiheit über dem Gesetz stünde, noch am seltensten.
Vielmehr hängt hier das Christenthum noch am engsten mit dem Judenthum
zusammen, es trägt ein entschieden jüdisch-nationales Gepräge. Aus keinem
andern Evangelium erfahren wir so viel über das Verhältniß, in welches sich
Jesus zu dem Gesetz, zu den jüdischen Gebräuchen, zu den jüdischen Sekten
stellte. Jesus heißt hier ganz vorzugsweise der Sohn Davids, alle seine Thaten
und Schicksale sind die. Erfüllung alttestamentlicher Weissagungen, und eben
diese eingetroffenen Weissagungen sind dem Evangelisten der Beweis, daß Jesus
der Messias ist. Schon nach den Propheten mühte Jesus aus Nazareth kom¬
men und in Galiläa wirken, die Abstammung aus Davids und Abrahams
Geschlecht, die Geburt in Bethlehem, der Einzug in Jerusalem, die Leiden werden
auf prophetische Weissagung zurückgeführt, und so wird auch sein messianischer
Beruf, seine lehrende und erlösende Thätigkeit nach prophetischen Vorbildern
geschildert. Durch seine erlösende menschenfreundliche Liebe zu dem Volk, das
er vom Druck der pharisäischen Satzungen befreit, erweist er sich als der vom
Volk erhoffte Messias. Nicht gegen das Judenthum überhaupt ist sein Auf¬
treten gerichtet, wie dies später der Standpunkt des zweiten und besonders des
vierten Evangeliums ist, sondern nur gegen die hohem Classen, gegen die
Unterdrücker deö Volks, gegen die Pharisäer und Schriftgelehrten; nicht gegen
das Gesetz, aber gegen die später hinzugekommnen Lehren und Ueberlieferungen,
welche sich ohne Berechtigung in die echte Tradition eingedrängt haben. So
bewegt sich das Evangelium einerseits noch ganz auf altiestamentlichem Boden, aber
eben von diesem Boden aus bekämpft es dasjenige' Judenthum, welches nicht an
den bereits erschienenen Messias glauben will. Es ist eine Vertheidigung des
Christusglaubens gegen die ungläubige Feindschaft des herrschenden Judenthums.


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[0429] der reinen ErlösuuM'edürftigkcit. dieses Betonen der Reinheit und Lauterkeit des Herzens, einer nicht in der äußern That, sondern in der Gesinnung be¬ stehenden Sittlichkeit ist zugleich das erste Aussprechen des wahrhaft christlichen Geistes, und wenn dieses Neue in der Bergrede angeknüpft ist an die fort¬ dauernde Befolgung des Gesetzes, das nicht verworfen, aber durchaus in die sittliche Sphäre erhoben wird, so hat sich auch darin ein geschichtliches Zeugniß erhalten, nämlich ein Zeugniß sür die pädagogische Art des Auftretens Jesu welcher an das mosaische Gesetz anknüpfte, aber in seinem Dringen auf das Innere, in seiner nachdrücklichen Behauptung der Werthlosigl'eit alles äußeren Scheins zugleich den künftigen Gegensatz zum Gesetz vorbereitete. Denn in demselben Maß, in welchem die sittliche Gesinnung zur Hauptsache gemacht wurde, verlor das Gesetz seineu absoluten Werth, und es war nur eine Frage der Zeit, wann jenes Bewußtsein so sicher und übergreifend ^sein würde, um geradezu deu Kampf gegen das Gesetz aufzunehmen. Allein eben im Maithäusevangelium sind die Spuren einer Anschauung, welche schon mit bewußter Freiheit über dem Gesetz stünde, noch am seltensten. Vielmehr hängt hier das Christenthum noch am engsten mit dem Judenthum zusammen, es trägt ein entschieden jüdisch-nationales Gepräge. Aus keinem andern Evangelium erfahren wir so viel über das Verhältniß, in welches sich Jesus zu dem Gesetz, zu den jüdischen Gebräuchen, zu den jüdischen Sekten stellte. Jesus heißt hier ganz vorzugsweise der Sohn Davids, alle seine Thaten und Schicksale sind die. Erfüllung alttestamentlicher Weissagungen, und eben diese eingetroffenen Weissagungen sind dem Evangelisten der Beweis, daß Jesus der Messias ist. Schon nach den Propheten mühte Jesus aus Nazareth kom¬ men und in Galiläa wirken, die Abstammung aus Davids und Abrahams Geschlecht, die Geburt in Bethlehem, der Einzug in Jerusalem, die Leiden werden auf prophetische Weissagung zurückgeführt, und so wird auch sein messianischer Beruf, seine lehrende und erlösende Thätigkeit nach prophetischen Vorbildern geschildert. Durch seine erlösende menschenfreundliche Liebe zu dem Volk, das er vom Druck der pharisäischen Satzungen befreit, erweist er sich als der vom Volk erhoffte Messias. Nicht gegen das Judenthum überhaupt ist sein Auf¬ treten gerichtet, wie dies später der Standpunkt des zweiten und besonders des vierten Evangeliums ist, sondern nur gegen die hohem Classen, gegen die Unterdrücker deö Volks, gegen die Pharisäer und Schriftgelehrten; nicht gegen das Gesetz, aber gegen die später hinzugekommnen Lehren und Ueberlieferungen, welche sich ohne Berechtigung in die echte Tradition eingedrängt haben. So bewegt sich das Evangelium einerseits noch ganz auf altiestamentlichem Boden, aber eben von diesem Boden aus bekämpft es dasjenige' Judenthum, welches nicht an den bereits erschienenen Messias glauben will. Es ist eine Vertheidigung des Christusglaubens gegen die ungläubige Feindschaft des herrschenden Judenthums.

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 23, 1864, I. Semester. II. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341799_188560/429>, abgerufen am 23.07.2024.