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Die Grenzboten. Jg. 23, 1864, I. Semester. II. Band.

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zweifelhaft ist noch die Stelle des Marcus, und wirklich irrt dieser noch immer
heimathlos umher, es wird ihm von der neueren Kritik abwechselnd bald die
erste, bald die zweite, bald die dritte Stelle angewiesen. Er kann nämlich der
erste sein, sofern er von dem Gegensatz des Juden- und Heidcnchristenthumö
noch gar nicht berührt ist; er kann der zweite sein, sofern er vom judaistischen
Matthäus überleitet zum paulinisircnden Lucas; er kann endlich der letzte sein,
sofern die Gegensätze des Judenchristlichen und Paulinischen in ihm absichtlich
verwischt sind und er einer Zeit angehört, da eben dieser Streit damit geendet
hat, daß an die Stelle des dogmatischen ein vorwiegend praktisches Interesse
getreten ist. Das Dogmatische reicht somit nicht allein aus, um die Reihen¬
folge der Synoptiker mit Sicherheit zu bestimmen. Glücklicherweise lassen sich
noch rein schriftstellerische, formelle Merkmale auffinden, welche einmal die Ab¬
hängigkeit des Lucas von Matthäus unzweifelhaft feststellen, sodann aber zu
dem Ergebniß leiten, daß Marcus, obwohl er am wenigsten dogmatische Ten¬
denz treibt, doch mit einer gewissen reflectirten Absichtlichkeit schreibt, die ihn
als späteren Verfasser charakterisirt, als einen Schriftsteller, der, was seiner com-
pilatorischen Arbeit an Originalität abgeht, durch sorgfältige Behandlung der
formellen Seite zu ersetzen sucht. Wir nehmen also die Reihenfolge an: Mat¬
thäus, Lucas, Marcus. und zwar so, daß die Reihenfolge zugleich ein Ab¬
hängigkeitsverhältniß ausdrückt: Lucas hat den Matthäus, Marcus die beiden
anderen zu seiner Voraussetzung.

Uebrigens ist auf die Bestimmung des gegenseitigen Alters und der gegen¬
seitigen Abhängigkeit der drei Synoptiker kein übermäßiges Gewicht zu legen.
Es ist dies ein Streitpunkt, in welchen sich allerdings die wissenschaftliche Kritik
lebhaft verbissen hat, der aber für das geschichtliche Resultat von geringer Be¬
deutung ist. Ob zur Grundlage der Biographie Jesu der Marcus oder der
Matthäus genommen wird, für das Lebensbild Jesu ist dies von geringem
Belang, es bleibt in seinen Grundzügen ganz dasselbe, und die Hauptsache ist
immer nur die, daß es auf Grundlage der Synoptiker und nicht des Johannes
dargestellt wird. Auch insofern verliert jener Streit den größten Theil seiner
Bedeutung, als diejenigen, welche den Marcus als das ursprünglichste Evan¬
gelium betrachten, doch damit in der Regel nicht den jetzigen Text des Marcus
meinen, sondern eine frühere Redaction desselben, während sie die spätere Ab¬
fassung unsres jetzigen Evangeliums nicht in Abrede stellen. Die Differenz
wird somit eine nur relative, und dasselbe ist, um dies gleich beizufügen, auch
der Fall mit den Differenzen bezüglich des Alters der Evangelien überhaupt.
Es ist wahr, nach den Einen sind sie in den letzten Decennien des ersten Jahr¬
hunderts abgefaßt, nach den Andern haben sie erst um die Mitte des zweiten
Jahrhunderts ihre jetzige Gestalt endgiltig erhalten. Allein auch wenn die
Evangelien schon am Schluß des ersten Jahrhunderts vorhanden gewesen sind,


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zweifelhaft ist noch die Stelle des Marcus, und wirklich irrt dieser noch immer
heimathlos umher, es wird ihm von der neueren Kritik abwechselnd bald die
erste, bald die zweite, bald die dritte Stelle angewiesen. Er kann nämlich der
erste sein, sofern er von dem Gegensatz des Juden- und Heidcnchristenthumö
noch gar nicht berührt ist; er kann der zweite sein, sofern er vom judaistischen
Matthäus überleitet zum paulinisircnden Lucas; er kann endlich der letzte sein,
sofern die Gegensätze des Judenchristlichen und Paulinischen in ihm absichtlich
verwischt sind und er einer Zeit angehört, da eben dieser Streit damit geendet
hat, daß an die Stelle des dogmatischen ein vorwiegend praktisches Interesse
getreten ist. Das Dogmatische reicht somit nicht allein aus, um die Reihen¬
folge der Synoptiker mit Sicherheit zu bestimmen. Glücklicherweise lassen sich
noch rein schriftstellerische, formelle Merkmale auffinden, welche einmal die Ab¬
hängigkeit des Lucas von Matthäus unzweifelhaft feststellen, sodann aber zu
dem Ergebniß leiten, daß Marcus, obwohl er am wenigsten dogmatische Ten¬
denz treibt, doch mit einer gewissen reflectirten Absichtlichkeit schreibt, die ihn
als späteren Verfasser charakterisirt, als einen Schriftsteller, der, was seiner com-
pilatorischen Arbeit an Originalität abgeht, durch sorgfältige Behandlung der
formellen Seite zu ersetzen sucht. Wir nehmen also die Reihenfolge an: Mat¬
thäus, Lucas, Marcus. und zwar so, daß die Reihenfolge zugleich ein Ab¬
hängigkeitsverhältniß ausdrückt: Lucas hat den Matthäus, Marcus die beiden
anderen zu seiner Voraussetzung.

Uebrigens ist auf die Bestimmung des gegenseitigen Alters und der gegen¬
seitigen Abhängigkeit der drei Synoptiker kein übermäßiges Gewicht zu legen.
Es ist dies ein Streitpunkt, in welchen sich allerdings die wissenschaftliche Kritik
lebhaft verbissen hat, der aber für das geschichtliche Resultat von geringer Be¬
deutung ist. Ob zur Grundlage der Biographie Jesu der Marcus oder der
Matthäus genommen wird, für das Lebensbild Jesu ist dies von geringem
Belang, es bleibt in seinen Grundzügen ganz dasselbe, und die Hauptsache ist
immer nur die, daß es auf Grundlage der Synoptiker und nicht des Johannes
dargestellt wird. Auch insofern verliert jener Streit den größten Theil seiner
Bedeutung, als diejenigen, welche den Marcus als das ursprünglichste Evan¬
gelium betrachten, doch damit in der Regel nicht den jetzigen Text des Marcus
meinen, sondern eine frühere Redaction desselben, während sie die spätere Ab¬
fassung unsres jetzigen Evangeliums nicht in Abrede stellen. Die Differenz
wird somit eine nur relative, und dasselbe ist, um dies gleich beizufügen, auch
der Fall mit den Differenzen bezüglich des Alters der Evangelien überhaupt.
Es ist wahr, nach den Einen sind sie in den letzten Decennien des ersten Jahr¬
hunderts abgefaßt, nach den Andern haben sie erst um die Mitte des zweiten
Jahrhunderts ihre jetzige Gestalt endgiltig erhalten. Allein auch wenn die
Evangelien schon am Schluß des ersten Jahrhunderts vorhanden gewesen sind,


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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 23, 1864, I. Semester. II. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341799_188560/427>, abgerufen am 25.08.2024.