Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Die Grenzboten. Jg. 23, 1864, I. Semester. II. Band.

Bild:
<< vorherige Seite

Stück von diesem Evangelium genommen, dann eines von einem andern, von
einem dritten angereiht wird u. s. f. scheitert an unübersteiglichen Schwierig¬
keiten und führt, wo er gemacht wird, zu den albernsten Combinationen, zu den
willkürlichsten Deuteleien an dem klaren Wortlaute der Schrift. Um diesen
Willkürlichkeiten zu entgehen, giebt es nur ein Mittel: die Evangelien einfach
so zu nehmen wie sie sind, ohne fremde Gesichtspunkte in sie hineinzutragen.
Jede Evangelicnschrift ist eine Individualität, die nach ihrer Eigenthümlichkeit,
nach ihren innersten Motiven erfaßt und verstanden sein will. Erst von hier
aus läßt sich dann die Frage beantworten, in welchem Maße, mit welchem An¬
spruch auf geschichtliche Glaubwürdigkeit eine jede derselben ein Reflex des ge¬
schichtlichen Lebens Jesu ist, erst dann läßt sich entscheiden, welchen Beitrag
jedes Evangelium zur Kenntniß dieses Lebens liefert. Je weniger in einer
Schrift dogmatische Motive Vorherrschen, je naiver sie erzählt, eine um so un¬
verdächtigere Quelle wird sie sein; je mehr sich in ihr dagegen ein beherrschen¬
der Grundgedanke nachweisen läßt, weichem der Erzählungsstoff untergeordnet
ist. um so weniger wird sie sich zur Grundlage einer Biographie Jesu eignen.

Dasjenige Evangelium nun, welches am sichtbarsten und consequentesten
den geschichtlichen Stoff unter den Gesichtspunkt einer beherrschenden Idee stellt,
so daß alles, was geschieht oder gesprochen wird, nur als die Ausprägung
dieser Idee erscheint, ist das Johanncsevangelium. Wer nicht ganz gedanken¬
los in den neutestamentlichen Schriften liest, muß inne werden, daß er sich
hier in einer ganz andern Welt befindet, als in den drei ersten Evangelien.
Wie groß auch die Differenzen unter allen vier Evangelien sind, so verschwin¬
den sie doch gegen die durchgreifende Differenz, welche zwischen den drei ersten
Evangelien -- wegen ihrer innern Verwandtschaft die Synoptiker genannt --
und zwischen dem des Johannes besteht. Der Leser wird diese Verschiedenheit
zunächst an einem eigenthümlichen geistigen Hauch empfinden, der durch dieses
Evangelium weht. Es ist ein mystisches Dämmerlicht, das uns beim Eintritt
in dasselbe empfängt, alles ist in eine magische Beleuchtung gerückt, Reden und
Handlungen haben etwas gewaltsam Gesteigertes, und wenn uns aus einzelnen
Theilen eine seltene Wärme der Empfindung entgegentritt, so überraschen an¬
dere durch geistvolle Blitze, welche die Abgründe der Speculation beleuchten,
während dann wieder das Räthselhafte. Seltsame anderer Abschnitte den Ein¬
druck vollendet, daß wir hier ein höchst eigenthümliches, schwer faßliches, aber
poetisch angehauchtes und gläubiger Ahnung ganz besonders zusagendes Werk
vor uns haben. Aber dieser Unterschied der Farbe und Beleuchtung ist nicht
der einzige. Folgen wir dem Gange der Erzählung und vergleichen wir ihn
mit der Darstellung, welche die Synoptiker von derselben Geschichte geben, so
stoßen wir auf sachliche Abweichungen, welche immer tiefer greifen und es
immer unmöglicher machen, beide Darstellungen zusammcnzudenken. Das Leben


Stück von diesem Evangelium genommen, dann eines von einem andern, von
einem dritten angereiht wird u. s. f. scheitert an unübersteiglichen Schwierig¬
keiten und führt, wo er gemacht wird, zu den albernsten Combinationen, zu den
willkürlichsten Deuteleien an dem klaren Wortlaute der Schrift. Um diesen
Willkürlichkeiten zu entgehen, giebt es nur ein Mittel: die Evangelien einfach
so zu nehmen wie sie sind, ohne fremde Gesichtspunkte in sie hineinzutragen.
Jede Evangelicnschrift ist eine Individualität, die nach ihrer Eigenthümlichkeit,
nach ihren innersten Motiven erfaßt und verstanden sein will. Erst von hier
aus läßt sich dann die Frage beantworten, in welchem Maße, mit welchem An¬
spruch auf geschichtliche Glaubwürdigkeit eine jede derselben ein Reflex des ge¬
schichtlichen Lebens Jesu ist, erst dann läßt sich entscheiden, welchen Beitrag
jedes Evangelium zur Kenntniß dieses Lebens liefert. Je weniger in einer
Schrift dogmatische Motive Vorherrschen, je naiver sie erzählt, eine um so un¬
verdächtigere Quelle wird sie sein; je mehr sich in ihr dagegen ein beherrschen¬
der Grundgedanke nachweisen läßt, weichem der Erzählungsstoff untergeordnet
ist. um so weniger wird sie sich zur Grundlage einer Biographie Jesu eignen.

Dasjenige Evangelium nun, welches am sichtbarsten und consequentesten
den geschichtlichen Stoff unter den Gesichtspunkt einer beherrschenden Idee stellt,
so daß alles, was geschieht oder gesprochen wird, nur als die Ausprägung
dieser Idee erscheint, ist das Johanncsevangelium. Wer nicht ganz gedanken¬
los in den neutestamentlichen Schriften liest, muß inne werden, daß er sich
hier in einer ganz andern Welt befindet, als in den drei ersten Evangelien.
Wie groß auch die Differenzen unter allen vier Evangelien sind, so verschwin¬
den sie doch gegen die durchgreifende Differenz, welche zwischen den drei ersten
Evangelien — wegen ihrer innern Verwandtschaft die Synoptiker genannt —
und zwischen dem des Johannes besteht. Der Leser wird diese Verschiedenheit
zunächst an einem eigenthümlichen geistigen Hauch empfinden, der durch dieses
Evangelium weht. Es ist ein mystisches Dämmerlicht, das uns beim Eintritt
in dasselbe empfängt, alles ist in eine magische Beleuchtung gerückt, Reden und
Handlungen haben etwas gewaltsam Gesteigertes, und wenn uns aus einzelnen
Theilen eine seltene Wärme der Empfindung entgegentritt, so überraschen an¬
dere durch geistvolle Blitze, welche die Abgründe der Speculation beleuchten,
während dann wieder das Räthselhafte. Seltsame anderer Abschnitte den Ein¬
druck vollendet, daß wir hier ein höchst eigenthümliches, schwer faßliches, aber
poetisch angehauchtes und gläubiger Ahnung ganz besonders zusagendes Werk
vor uns haben. Aber dieser Unterschied der Farbe und Beleuchtung ist nicht
der einzige. Folgen wir dem Gange der Erzählung und vergleichen wir ihn
mit der Darstellung, welche die Synoptiker von derselben Geschichte geben, so
stoßen wir auf sachliche Abweichungen, welche immer tiefer greifen und es
immer unmöglicher machen, beide Darstellungen zusammcnzudenken. Das Leben


<TEI>
  <text>
    <body>
      <div>
        <div n="1">
          <pb facs="#f0388" corresp="http://brema.suub.uni-bremen.de/grenzboten/periodical/pageview/188949"/>
          <p xml:id="ID_1315" prev="#ID_1314"> Stück von diesem Evangelium genommen, dann eines von einem andern, von<lb/>
einem dritten angereiht wird u. s. f. scheitert an unübersteiglichen Schwierig¬<lb/>
keiten und führt, wo er gemacht wird, zu den albernsten Combinationen, zu den<lb/>
willkürlichsten Deuteleien an dem klaren Wortlaute der Schrift. Um diesen<lb/>
Willkürlichkeiten zu entgehen, giebt es nur ein Mittel: die Evangelien einfach<lb/>
so zu nehmen wie sie sind, ohne fremde Gesichtspunkte in sie hineinzutragen.<lb/>
Jede Evangelicnschrift ist eine Individualität, die nach ihrer Eigenthümlichkeit,<lb/>
nach ihren innersten Motiven erfaßt und verstanden sein will. Erst von hier<lb/>
aus läßt sich dann die Frage beantworten, in welchem Maße, mit welchem An¬<lb/>
spruch auf geschichtliche Glaubwürdigkeit eine jede derselben ein Reflex des ge¬<lb/>
schichtlichen Lebens Jesu ist, erst dann läßt sich entscheiden, welchen Beitrag<lb/>
jedes Evangelium zur Kenntniß dieses Lebens liefert. Je weniger in einer<lb/>
Schrift dogmatische Motive Vorherrschen, je naiver sie erzählt, eine um so un¬<lb/>
verdächtigere Quelle wird sie sein; je mehr sich in ihr dagegen ein beherrschen¬<lb/>
der Grundgedanke nachweisen läßt, weichem der Erzählungsstoff untergeordnet<lb/>
ist. um so weniger wird sie sich zur Grundlage einer Biographie Jesu eignen.</p><lb/>
          <p xml:id="ID_1316" next="#ID_1317"> Dasjenige Evangelium nun, welches am sichtbarsten und consequentesten<lb/>
den geschichtlichen Stoff unter den Gesichtspunkt einer beherrschenden Idee stellt,<lb/>
so daß alles, was geschieht oder gesprochen wird, nur als die Ausprägung<lb/>
dieser Idee erscheint, ist das Johanncsevangelium. Wer nicht ganz gedanken¬<lb/>
los in den neutestamentlichen Schriften liest, muß inne werden, daß er sich<lb/>
hier in einer ganz andern Welt befindet, als in den drei ersten Evangelien.<lb/>
Wie groß auch die Differenzen unter allen vier Evangelien sind, so verschwin¬<lb/>
den sie doch gegen die durchgreifende Differenz, welche zwischen den drei ersten<lb/>
Evangelien &#x2014; wegen ihrer innern Verwandtschaft die Synoptiker genannt &#x2014;<lb/>
und zwischen dem des Johannes besteht. Der Leser wird diese Verschiedenheit<lb/>
zunächst an einem eigenthümlichen geistigen Hauch empfinden, der durch dieses<lb/>
Evangelium weht. Es ist ein mystisches Dämmerlicht, das uns beim Eintritt<lb/>
in dasselbe empfängt, alles ist in eine magische Beleuchtung gerückt, Reden und<lb/>
Handlungen haben etwas gewaltsam Gesteigertes, und wenn uns aus einzelnen<lb/>
Theilen eine seltene Wärme der Empfindung entgegentritt, so überraschen an¬<lb/>
dere durch geistvolle Blitze, welche die Abgründe der Speculation beleuchten,<lb/>
während dann wieder das Räthselhafte. Seltsame anderer Abschnitte den Ein¬<lb/>
druck vollendet, daß wir hier ein höchst eigenthümliches, schwer faßliches, aber<lb/>
poetisch angehauchtes und gläubiger Ahnung ganz besonders zusagendes Werk<lb/>
vor uns haben. Aber dieser Unterschied der Farbe und Beleuchtung ist nicht<lb/>
der einzige. Folgen wir dem Gange der Erzählung und vergleichen wir ihn<lb/>
mit der Darstellung, welche die Synoptiker von derselben Geschichte geben, so<lb/>
stoßen wir auf sachliche Abweichungen, welche immer tiefer greifen und es<lb/>
immer unmöglicher machen, beide Darstellungen zusammcnzudenken. Das Leben</p><lb/>
        </div>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[0388] Stück von diesem Evangelium genommen, dann eines von einem andern, von einem dritten angereiht wird u. s. f. scheitert an unübersteiglichen Schwierig¬ keiten und führt, wo er gemacht wird, zu den albernsten Combinationen, zu den willkürlichsten Deuteleien an dem klaren Wortlaute der Schrift. Um diesen Willkürlichkeiten zu entgehen, giebt es nur ein Mittel: die Evangelien einfach so zu nehmen wie sie sind, ohne fremde Gesichtspunkte in sie hineinzutragen. Jede Evangelicnschrift ist eine Individualität, die nach ihrer Eigenthümlichkeit, nach ihren innersten Motiven erfaßt und verstanden sein will. Erst von hier aus läßt sich dann die Frage beantworten, in welchem Maße, mit welchem An¬ spruch auf geschichtliche Glaubwürdigkeit eine jede derselben ein Reflex des ge¬ schichtlichen Lebens Jesu ist, erst dann läßt sich entscheiden, welchen Beitrag jedes Evangelium zur Kenntniß dieses Lebens liefert. Je weniger in einer Schrift dogmatische Motive Vorherrschen, je naiver sie erzählt, eine um so un¬ verdächtigere Quelle wird sie sein; je mehr sich in ihr dagegen ein beherrschen¬ der Grundgedanke nachweisen läßt, weichem der Erzählungsstoff untergeordnet ist. um so weniger wird sie sich zur Grundlage einer Biographie Jesu eignen. Dasjenige Evangelium nun, welches am sichtbarsten und consequentesten den geschichtlichen Stoff unter den Gesichtspunkt einer beherrschenden Idee stellt, so daß alles, was geschieht oder gesprochen wird, nur als die Ausprägung dieser Idee erscheint, ist das Johanncsevangelium. Wer nicht ganz gedanken¬ los in den neutestamentlichen Schriften liest, muß inne werden, daß er sich hier in einer ganz andern Welt befindet, als in den drei ersten Evangelien. Wie groß auch die Differenzen unter allen vier Evangelien sind, so verschwin¬ den sie doch gegen die durchgreifende Differenz, welche zwischen den drei ersten Evangelien — wegen ihrer innern Verwandtschaft die Synoptiker genannt — und zwischen dem des Johannes besteht. Der Leser wird diese Verschiedenheit zunächst an einem eigenthümlichen geistigen Hauch empfinden, der durch dieses Evangelium weht. Es ist ein mystisches Dämmerlicht, das uns beim Eintritt in dasselbe empfängt, alles ist in eine magische Beleuchtung gerückt, Reden und Handlungen haben etwas gewaltsam Gesteigertes, und wenn uns aus einzelnen Theilen eine seltene Wärme der Empfindung entgegentritt, so überraschen an¬ dere durch geistvolle Blitze, welche die Abgründe der Speculation beleuchten, während dann wieder das Räthselhafte. Seltsame anderer Abschnitte den Ein¬ druck vollendet, daß wir hier ein höchst eigenthümliches, schwer faßliches, aber poetisch angehauchtes und gläubiger Ahnung ganz besonders zusagendes Werk vor uns haben. Aber dieser Unterschied der Farbe und Beleuchtung ist nicht der einzige. Folgen wir dem Gange der Erzählung und vergleichen wir ihn mit der Darstellung, welche die Synoptiker von derselben Geschichte geben, so stoßen wir auf sachliche Abweichungen, welche immer tiefer greifen und es immer unmöglicher machen, beide Darstellungen zusammcnzudenken. Das Leben

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde im Rahmen des Moduls DTA-Erweiterungen (DTAE) digitalisiert. Weitere Informationen …

Staats- und Universitätsbibliothek (SuUB) Bremen: Bereitstellung der Texttranskription.
Kay-Michael Würzner: Bearbeitung der digitalen Edition.

Weitere Informationen:

Verfahren der Texterfassung: OCR mit Nachkorrektur.

Bogensignaturen: gekennzeichnet;Druckfehler: ignoriert;fremdsprachliches Material: nicht gekennzeichnet;Geminations-/Abkürzungsstriche: wie Vorlage;Hervorhebungen (Antiqua, Sperrschrift, Kursive etc.): nicht ausgezeichnet;i/j in Fraktur: wie Vorlage;I/J in Fraktur: wie Vorlage;Kolumnentitel: gekennzeichnet;Kustoden: gekennzeichnet;langes s (ſ): als s transkribiert;Normalisierungen: stillschweigend;rundes r (&#xa75b;): als r/et transkribiert;Seitenumbrüche markiert: ja;Silbentrennung: wie Vorlage;u/v bzw. U/V: wie Vorlage;Vokale mit übergest. e: als ä/ö/ü transkribiert;Vollständigkeit: vollständig erfasst;Zeichensetzung: wie Vorlage;Zeilenumbrüche markiert: ja;

Nachkorrektur erfolgte automatisch.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341799_188560
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341799_188560/388
Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 23, 1864, I. Semester. II. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341799_188560/388>, abgerufen am 23.07.2024.