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Die Grenzboten. Jg. 23, 1864, I. Semester. II. Band.

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ersten Schrift einzuverleiben, und sie so zu einem neuen Evangelium umzu¬
gestalten. Allein das Motiv war in der R,egel noch ein anderes. Das Christen¬
thum riß sich allmälig erst von den Banden los. welche dasselbe mit dem Juden-
thum verknüpften; allmälig und erst unter der Einwirkung des Paulinismus
nahm es eine freiere Stellung zum Gesetz, zur Beschneidung, in der Frage
über die Zulassung der Heiden ein. und diese allmälige Entpuppung aus ge¬
bundeneren Zuständen zu freieren Grundsätzen hat ihre Spuren auch in der
Evangelienlitcratur zurückgelassen. Je nach den Ideen, welche in der Kirche die
Oberhand erhielten, wurde auch der vorhandene Evangelicnstoff modificirt. Die
Interessen der Gegenwart drängten sich ein in die Auffassung und Darstellung
der Vergangenheit; man wollte in den ältesten Urkunden niedergelegt, durch
den Mund des Meisters selbst bestätigt haben, was Uebung und Glaube. Praxis
und Dogma einer späteren Zeit geworden war. Dabei entspricht es ganz der
Natur der Sache, daß wir in der Negel -- obwohl nicht ausnahmslos -- in solchen
Stellen, welche die christliche Lehre noch möglichst an das Judenthum gebunden
darstellen, eine frühere Fassung, in solchen, welche ein universalistisches Gepräge
tragen, eine spätere Fassung erkennen. Wir finden im ersten Evangelium Aus¬
sprüche Jesu, welche die strengste Einhaltung des mosaischen Gesetzes, einschärfen,
andere, welche eine hoch über dem Gesetz stehende Sinnesart verrathen. Aus-
sprüche. welche das messianische Heil als allein für die Juden bestimmt dar¬
stellen, andere, welche den Jüngern auftragen das Evangelium auch den Heiden
zu bringen. Wir werden Wohl Annehmen dürfen, daß Aussprüche so verschiedener
Art ursprünglich nicht in einer und derselben Schrift verzeichnet waren; wir
tonnen uns aber auch schwer zu dem Glauben entschließen, daß so entgegen¬
gesetzte Aussprüche, wenn auch in verschiedenen Zeiten, aus dem Munde Jesu
ausgegangen seien. Vielmehr spiegelt sich in diesem Widerstreit offenbar der
Widerstreit der späteren Parteien, wobei allerdings die Frage nicht blos die ist,
welche Fassung wir uns als die echte und ursprüngliche zu denken haben, son¬
dern auch die Erwägung berechtigt ist, ob nicht beide Fassungen, welche so leb¬
haft an die Gegensätze der späteren Zeit erinnern, erst der letzteren ihre
Entstehung Verdanken. So finden wir im Lucascvangclium Stücke, die eine
entschieden judenchristliche. Quelle voraussetzen, und wieder andere größere Ab¬
schnitte, welche das Gepräge eines entschiedenen Paulinismus an sich tragen.
Offenbar konnte nur ein späterer Bearbeiter so verschiedenartige Stücke zu einem
Ganzen verarbeiten, und zwar konnte es nur ein dem paulinischen Christen¬
thum geneigter Bearbeiter sein, der die judenchristiiche Tradition zwar aufnahm,
aber an einzelnen Punkten im paulinischen Sinne umbildete und ihnen durch
Gegenüberstellung universalistischer Stücke ein Gegengewicht zu geben suchte.
Diese Wahrnehmung von dem Eindringen dogmatischer Motive in die Geschichts¬
erzählung dient nun begreiflicherweise nicht dazu, die Glaubwürdigkeit der


ersten Schrift einzuverleiben, und sie so zu einem neuen Evangelium umzu¬
gestalten. Allein das Motiv war in der R,egel noch ein anderes. Das Christen¬
thum riß sich allmälig erst von den Banden los. welche dasselbe mit dem Juden-
thum verknüpften; allmälig und erst unter der Einwirkung des Paulinismus
nahm es eine freiere Stellung zum Gesetz, zur Beschneidung, in der Frage
über die Zulassung der Heiden ein. und diese allmälige Entpuppung aus ge¬
bundeneren Zuständen zu freieren Grundsätzen hat ihre Spuren auch in der
Evangelienlitcratur zurückgelassen. Je nach den Ideen, welche in der Kirche die
Oberhand erhielten, wurde auch der vorhandene Evangelicnstoff modificirt. Die
Interessen der Gegenwart drängten sich ein in die Auffassung und Darstellung
der Vergangenheit; man wollte in den ältesten Urkunden niedergelegt, durch
den Mund des Meisters selbst bestätigt haben, was Uebung und Glaube. Praxis
und Dogma einer späteren Zeit geworden war. Dabei entspricht es ganz der
Natur der Sache, daß wir in der Negel — obwohl nicht ausnahmslos — in solchen
Stellen, welche die christliche Lehre noch möglichst an das Judenthum gebunden
darstellen, eine frühere Fassung, in solchen, welche ein universalistisches Gepräge
tragen, eine spätere Fassung erkennen. Wir finden im ersten Evangelium Aus¬
sprüche Jesu, welche die strengste Einhaltung des mosaischen Gesetzes, einschärfen,
andere, welche eine hoch über dem Gesetz stehende Sinnesart verrathen. Aus-
sprüche. welche das messianische Heil als allein für die Juden bestimmt dar¬
stellen, andere, welche den Jüngern auftragen das Evangelium auch den Heiden
zu bringen. Wir werden Wohl Annehmen dürfen, daß Aussprüche so verschiedener
Art ursprünglich nicht in einer und derselben Schrift verzeichnet waren; wir
tonnen uns aber auch schwer zu dem Glauben entschließen, daß so entgegen¬
gesetzte Aussprüche, wenn auch in verschiedenen Zeiten, aus dem Munde Jesu
ausgegangen seien. Vielmehr spiegelt sich in diesem Widerstreit offenbar der
Widerstreit der späteren Parteien, wobei allerdings die Frage nicht blos die ist,
welche Fassung wir uns als die echte und ursprüngliche zu denken haben, son¬
dern auch die Erwägung berechtigt ist, ob nicht beide Fassungen, welche so leb¬
haft an die Gegensätze der späteren Zeit erinnern, erst der letzteren ihre
Entstehung Verdanken. So finden wir im Lucascvangclium Stücke, die eine
entschieden judenchristliche. Quelle voraussetzen, und wieder andere größere Ab¬
schnitte, welche das Gepräge eines entschiedenen Paulinismus an sich tragen.
Offenbar konnte nur ein späterer Bearbeiter so verschiedenartige Stücke zu einem
Ganzen verarbeiten, und zwar konnte es nur ein dem paulinischen Christen¬
thum geneigter Bearbeiter sein, der die judenchristiiche Tradition zwar aufnahm,
aber an einzelnen Punkten im paulinischen Sinne umbildete und ihnen durch
Gegenüberstellung universalistischer Stücke ein Gegengewicht zu geben suchte.
Diese Wahrnehmung von dem Eindringen dogmatischer Motive in die Geschichts¬
erzählung dient nun begreiflicherweise nicht dazu, die Glaubwürdigkeit der


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[0386] ersten Schrift einzuverleiben, und sie so zu einem neuen Evangelium umzu¬ gestalten. Allein das Motiv war in der R,egel noch ein anderes. Das Christen¬ thum riß sich allmälig erst von den Banden los. welche dasselbe mit dem Juden- thum verknüpften; allmälig und erst unter der Einwirkung des Paulinismus nahm es eine freiere Stellung zum Gesetz, zur Beschneidung, in der Frage über die Zulassung der Heiden ein. und diese allmälige Entpuppung aus ge¬ bundeneren Zuständen zu freieren Grundsätzen hat ihre Spuren auch in der Evangelienlitcratur zurückgelassen. Je nach den Ideen, welche in der Kirche die Oberhand erhielten, wurde auch der vorhandene Evangelicnstoff modificirt. Die Interessen der Gegenwart drängten sich ein in die Auffassung und Darstellung der Vergangenheit; man wollte in den ältesten Urkunden niedergelegt, durch den Mund des Meisters selbst bestätigt haben, was Uebung und Glaube. Praxis und Dogma einer späteren Zeit geworden war. Dabei entspricht es ganz der Natur der Sache, daß wir in der Negel — obwohl nicht ausnahmslos — in solchen Stellen, welche die christliche Lehre noch möglichst an das Judenthum gebunden darstellen, eine frühere Fassung, in solchen, welche ein universalistisches Gepräge tragen, eine spätere Fassung erkennen. Wir finden im ersten Evangelium Aus¬ sprüche Jesu, welche die strengste Einhaltung des mosaischen Gesetzes, einschärfen, andere, welche eine hoch über dem Gesetz stehende Sinnesart verrathen. Aus- sprüche. welche das messianische Heil als allein für die Juden bestimmt dar¬ stellen, andere, welche den Jüngern auftragen das Evangelium auch den Heiden zu bringen. Wir werden Wohl Annehmen dürfen, daß Aussprüche so verschiedener Art ursprünglich nicht in einer und derselben Schrift verzeichnet waren; wir tonnen uns aber auch schwer zu dem Glauben entschließen, daß so entgegen¬ gesetzte Aussprüche, wenn auch in verschiedenen Zeiten, aus dem Munde Jesu ausgegangen seien. Vielmehr spiegelt sich in diesem Widerstreit offenbar der Widerstreit der späteren Parteien, wobei allerdings die Frage nicht blos die ist, welche Fassung wir uns als die echte und ursprüngliche zu denken haben, son¬ dern auch die Erwägung berechtigt ist, ob nicht beide Fassungen, welche so leb¬ haft an die Gegensätze der späteren Zeit erinnern, erst der letzteren ihre Entstehung Verdanken. So finden wir im Lucascvangclium Stücke, die eine entschieden judenchristliche. Quelle voraussetzen, und wieder andere größere Ab¬ schnitte, welche das Gepräge eines entschiedenen Paulinismus an sich tragen. Offenbar konnte nur ein späterer Bearbeiter so verschiedenartige Stücke zu einem Ganzen verarbeiten, und zwar konnte es nur ein dem paulinischen Christen¬ thum geneigter Bearbeiter sein, der die judenchristiiche Tradition zwar aufnahm, aber an einzelnen Punkten im paulinischen Sinne umbildete und ihnen durch Gegenüberstellung universalistischer Stücke ein Gegengewicht zu geben suchte. Diese Wahrnehmung von dem Eindringen dogmatischer Motive in die Geschichts¬ erzählung dient nun begreiflicherweise nicht dazu, die Glaubwürdigkeit der

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 23, 1864, I. Semester. II. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341799_188560/386>, abgerufen am 23.07.2024.