Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Die Grenzboten. Jg. 23, 1864, I. Semester. II. Band.

Bild:
<< vorherige Seite

zehnten, die festen Umrisse der geschichtlichen Thatsachen zerflossen, und nahmen
sagenhaft ausgeschmückte Züge an, die liebende Verehrung der ersten Bekenner,
welche des theuren Meisters sich beraubt sahen, ward erfinderisch, und die Bilder
vom Messias, wie sie den Propheten des alten Bundes vorgeschwebt hatten,
lieferten die bestimmten Züge, nach welchen das Leben Jesu in der gläubigen
Gemeinde halb bewußtlos, halb in absichtvolter Übertragung sich gestaltete.
Die Evangelien selbst sind uns ein sicheres Zeugniß, daß dies das vorherrschende
Interesse war, mit welchem die Gemeinde rückwärts nach ihrem Stifter blickte.
Ja wir können in ihnen noch das allmälige Anwachsen des wunder- und sagen¬
haften Elements wahrnehmen, welches nach und nach den ganzen Stoff der
evangelischen Geschichte ergriff und im letzten Evangelium völlig nach den neuen
Gesichtspunkten umbildete.

Noch andere Spuren weisen darauf hin, daß unsre vorliegenden Evange¬
lien bereits durch einen längeren Zeitraum von den Thatsache", welche sie be¬
schreiben, entfernt sind. Es ist unverkennbar, daß sie erst mehrfachen Ueber-
arbeitungen ihre jetzige Gestalt verdanken. Die Behandlung des historischen
Stoffs ist trotz des sichtbaren Strebens nach einheitlicher Gestaltung eine un¬
gleiche. Es stoßen uns Zusätze, Einschaltungen aus, zusammenhängende Stücke
lassen sich noch erkennen, die, aus früheren Bearbeitungen herübergenommen,
erst später mit anderen Bestandtheilen zu einem Ganzen verschmolzen wurden.
Alles dies weist darauf hin, daß die Evangelicnbildung längere Zeit im Flusse
begriffen war, daß sie in fortschreitender Entwicklung Neues in sich aufnahm,
Anderes wohl auch ausschied oder umbildete. Halten wir damit anderweitige
literarische Zeugnisse zusammen, so wird es im höchsten Grade wahrscheinlich,
daß unsern sämmtlichen Evangelien eine nicht unbeträchtliche ältere Evangelien¬
literatur vorausging, die sich vielleicht von einem gemeinsamen Grundstock aus
allmälig ausbreitete, in mannigfachen Gestaltungen sich verzweigend, die uns
nun verloren gegangen sind, während ihr letzter Niederschlag sich in unsern
vier kanonischen Evangelien erhalten bat. Betrachten wir dann jene Ein¬
schaltungen oder überarbeiteten Stücke näher, so sind es zwar oft formelle
Gründe, welche sie als solche charat'terisiren, aber häufig geben sie sich auch
dadurch zu erkennen, daß sie einen andern Standpunkt des christlichen Bewußt¬
seins verrathen, als die übrigen Theile der Schrift, in welche sie von einem
späteren Ueberarbeiter eingefügt worden sind. Und dies führt uns auf die
eigenthümlichen Motive, welche jenen Überarbeitungen zu Gründe lagen. Zum
Theil rührten dieselben allerdings auch daher, daß in anderen Gemeinden andere
Ueberlieferungen vorhanden waren. Wenn nun ein Evangelium, das etwa in
einem galiläischen Kreise entstanden war, in andere Gegenden kam, wo ein
anderer Theil der Ueberlieferung besonders lebendig sein mochte, so entstand das
natürliche Interesse, auch diesen bisher nur mündlich fortgepflanzte" Stoff jener


Grenzboten II. 1804. 48

zehnten, die festen Umrisse der geschichtlichen Thatsachen zerflossen, und nahmen
sagenhaft ausgeschmückte Züge an, die liebende Verehrung der ersten Bekenner,
welche des theuren Meisters sich beraubt sahen, ward erfinderisch, und die Bilder
vom Messias, wie sie den Propheten des alten Bundes vorgeschwebt hatten,
lieferten die bestimmten Züge, nach welchen das Leben Jesu in der gläubigen
Gemeinde halb bewußtlos, halb in absichtvolter Übertragung sich gestaltete.
Die Evangelien selbst sind uns ein sicheres Zeugniß, daß dies das vorherrschende
Interesse war, mit welchem die Gemeinde rückwärts nach ihrem Stifter blickte.
Ja wir können in ihnen noch das allmälige Anwachsen des wunder- und sagen¬
haften Elements wahrnehmen, welches nach und nach den ganzen Stoff der
evangelischen Geschichte ergriff und im letzten Evangelium völlig nach den neuen
Gesichtspunkten umbildete.

Noch andere Spuren weisen darauf hin, daß unsre vorliegenden Evange¬
lien bereits durch einen längeren Zeitraum von den Thatsache», welche sie be¬
schreiben, entfernt sind. Es ist unverkennbar, daß sie erst mehrfachen Ueber-
arbeitungen ihre jetzige Gestalt verdanken. Die Behandlung des historischen
Stoffs ist trotz des sichtbaren Strebens nach einheitlicher Gestaltung eine un¬
gleiche. Es stoßen uns Zusätze, Einschaltungen aus, zusammenhängende Stücke
lassen sich noch erkennen, die, aus früheren Bearbeitungen herübergenommen,
erst später mit anderen Bestandtheilen zu einem Ganzen verschmolzen wurden.
Alles dies weist darauf hin, daß die Evangelicnbildung längere Zeit im Flusse
begriffen war, daß sie in fortschreitender Entwicklung Neues in sich aufnahm,
Anderes wohl auch ausschied oder umbildete. Halten wir damit anderweitige
literarische Zeugnisse zusammen, so wird es im höchsten Grade wahrscheinlich,
daß unsern sämmtlichen Evangelien eine nicht unbeträchtliche ältere Evangelien¬
literatur vorausging, die sich vielleicht von einem gemeinsamen Grundstock aus
allmälig ausbreitete, in mannigfachen Gestaltungen sich verzweigend, die uns
nun verloren gegangen sind, während ihr letzter Niederschlag sich in unsern
vier kanonischen Evangelien erhalten bat. Betrachten wir dann jene Ein¬
schaltungen oder überarbeiteten Stücke näher, so sind es zwar oft formelle
Gründe, welche sie als solche charat'terisiren, aber häufig geben sie sich auch
dadurch zu erkennen, daß sie einen andern Standpunkt des christlichen Bewußt¬
seins verrathen, als die übrigen Theile der Schrift, in welche sie von einem
späteren Ueberarbeiter eingefügt worden sind. Und dies führt uns auf die
eigenthümlichen Motive, welche jenen Überarbeitungen zu Gründe lagen. Zum
Theil rührten dieselben allerdings auch daher, daß in anderen Gemeinden andere
Ueberlieferungen vorhanden waren. Wenn nun ein Evangelium, das etwa in
einem galiläischen Kreise entstanden war, in andere Gegenden kam, wo ein
anderer Theil der Ueberlieferung besonders lebendig sein mochte, so entstand das
natürliche Interesse, auch diesen bisher nur mündlich fortgepflanzte» Stoff jener


Grenzboten II. 1804. 48
<TEI>
  <text>
    <body>
      <div>
        <div n="1">
          <pb facs="#f0385" corresp="http://brema.suub.uni-bremen.de/grenzboten/periodical/pageview/188946"/>
          <p xml:id="ID_1310" prev="#ID_1309"> zehnten, die festen Umrisse der geschichtlichen Thatsachen zerflossen, und nahmen<lb/>
sagenhaft ausgeschmückte Züge an, die liebende Verehrung der ersten Bekenner,<lb/>
welche des theuren Meisters sich beraubt sahen, ward erfinderisch, und die Bilder<lb/>
vom Messias, wie sie den Propheten des alten Bundes vorgeschwebt hatten,<lb/>
lieferten die bestimmten Züge, nach welchen das Leben Jesu in der gläubigen<lb/>
Gemeinde halb bewußtlos, halb in absichtvolter Übertragung sich gestaltete.<lb/>
Die Evangelien selbst sind uns ein sicheres Zeugniß, daß dies das vorherrschende<lb/>
Interesse war, mit welchem die Gemeinde rückwärts nach ihrem Stifter blickte.<lb/>
Ja wir können in ihnen noch das allmälige Anwachsen des wunder- und sagen¬<lb/>
haften Elements wahrnehmen, welches nach und nach den ganzen Stoff der<lb/>
evangelischen Geschichte ergriff und im letzten Evangelium völlig nach den neuen<lb/>
Gesichtspunkten umbildete.</p><lb/>
          <p xml:id="ID_1311" next="#ID_1312"> Noch andere Spuren weisen darauf hin, daß unsre vorliegenden Evange¬<lb/>
lien bereits durch einen längeren Zeitraum von den Thatsache», welche sie be¬<lb/>
schreiben, entfernt sind. Es ist unverkennbar, daß sie erst mehrfachen Ueber-<lb/>
arbeitungen ihre jetzige Gestalt verdanken. Die Behandlung des historischen<lb/>
Stoffs ist trotz des sichtbaren Strebens nach einheitlicher Gestaltung eine un¬<lb/>
gleiche. Es stoßen uns Zusätze, Einschaltungen aus, zusammenhängende Stücke<lb/>
lassen sich noch erkennen, die, aus früheren Bearbeitungen herübergenommen,<lb/>
erst später mit anderen Bestandtheilen zu einem Ganzen verschmolzen wurden.<lb/>
Alles dies weist darauf hin, daß die Evangelicnbildung längere Zeit im Flusse<lb/>
begriffen war, daß sie in fortschreitender Entwicklung Neues in sich aufnahm,<lb/>
Anderes wohl auch ausschied oder umbildete. Halten wir damit anderweitige<lb/>
literarische Zeugnisse zusammen, so wird es im höchsten Grade wahrscheinlich,<lb/>
daß unsern sämmtlichen Evangelien eine nicht unbeträchtliche ältere Evangelien¬<lb/>
literatur vorausging, die sich vielleicht von einem gemeinsamen Grundstock aus<lb/>
allmälig ausbreitete, in mannigfachen Gestaltungen sich verzweigend, die uns<lb/>
nun verloren gegangen sind, während ihr letzter Niederschlag sich in unsern<lb/>
vier kanonischen Evangelien erhalten bat. Betrachten wir dann jene Ein¬<lb/>
schaltungen oder überarbeiteten Stücke näher, so sind es zwar oft formelle<lb/>
Gründe, welche sie als solche charat'terisiren, aber häufig geben sie sich auch<lb/>
dadurch zu erkennen, daß sie einen andern Standpunkt des christlichen Bewußt¬<lb/>
seins verrathen, als die übrigen Theile der Schrift, in welche sie von einem<lb/>
späteren Ueberarbeiter eingefügt worden sind. Und dies führt uns auf die<lb/>
eigenthümlichen Motive, welche jenen Überarbeitungen zu Gründe lagen. Zum<lb/>
Theil rührten dieselben allerdings auch daher, daß in anderen Gemeinden andere<lb/>
Ueberlieferungen vorhanden waren. Wenn nun ein Evangelium, das etwa in<lb/>
einem galiläischen Kreise entstanden war, in andere Gegenden kam, wo ein<lb/>
anderer Theil der Ueberlieferung besonders lebendig sein mochte, so entstand das<lb/>
natürliche Interesse, auch diesen bisher nur mündlich fortgepflanzte» Stoff jener</p><lb/>
          <fw type="sig" place="bottom"> Grenzboten II. 1804. 48</fw><lb/>
        </div>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[0385] zehnten, die festen Umrisse der geschichtlichen Thatsachen zerflossen, und nahmen sagenhaft ausgeschmückte Züge an, die liebende Verehrung der ersten Bekenner, welche des theuren Meisters sich beraubt sahen, ward erfinderisch, und die Bilder vom Messias, wie sie den Propheten des alten Bundes vorgeschwebt hatten, lieferten die bestimmten Züge, nach welchen das Leben Jesu in der gläubigen Gemeinde halb bewußtlos, halb in absichtvolter Übertragung sich gestaltete. Die Evangelien selbst sind uns ein sicheres Zeugniß, daß dies das vorherrschende Interesse war, mit welchem die Gemeinde rückwärts nach ihrem Stifter blickte. Ja wir können in ihnen noch das allmälige Anwachsen des wunder- und sagen¬ haften Elements wahrnehmen, welches nach und nach den ganzen Stoff der evangelischen Geschichte ergriff und im letzten Evangelium völlig nach den neuen Gesichtspunkten umbildete. Noch andere Spuren weisen darauf hin, daß unsre vorliegenden Evange¬ lien bereits durch einen längeren Zeitraum von den Thatsache», welche sie be¬ schreiben, entfernt sind. Es ist unverkennbar, daß sie erst mehrfachen Ueber- arbeitungen ihre jetzige Gestalt verdanken. Die Behandlung des historischen Stoffs ist trotz des sichtbaren Strebens nach einheitlicher Gestaltung eine un¬ gleiche. Es stoßen uns Zusätze, Einschaltungen aus, zusammenhängende Stücke lassen sich noch erkennen, die, aus früheren Bearbeitungen herübergenommen, erst später mit anderen Bestandtheilen zu einem Ganzen verschmolzen wurden. Alles dies weist darauf hin, daß die Evangelicnbildung längere Zeit im Flusse begriffen war, daß sie in fortschreitender Entwicklung Neues in sich aufnahm, Anderes wohl auch ausschied oder umbildete. Halten wir damit anderweitige literarische Zeugnisse zusammen, so wird es im höchsten Grade wahrscheinlich, daß unsern sämmtlichen Evangelien eine nicht unbeträchtliche ältere Evangelien¬ literatur vorausging, die sich vielleicht von einem gemeinsamen Grundstock aus allmälig ausbreitete, in mannigfachen Gestaltungen sich verzweigend, die uns nun verloren gegangen sind, während ihr letzter Niederschlag sich in unsern vier kanonischen Evangelien erhalten bat. Betrachten wir dann jene Ein¬ schaltungen oder überarbeiteten Stücke näher, so sind es zwar oft formelle Gründe, welche sie als solche charat'terisiren, aber häufig geben sie sich auch dadurch zu erkennen, daß sie einen andern Standpunkt des christlichen Bewußt¬ seins verrathen, als die übrigen Theile der Schrift, in welche sie von einem späteren Ueberarbeiter eingefügt worden sind. Und dies führt uns auf die eigenthümlichen Motive, welche jenen Überarbeitungen zu Gründe lagen. Zum Theil rührten dieselben allerdings auch daher, daß in anderen Gemeinden andere Ueberlieferungen vorhanden waren. Wenn nun ein Evangelium, das etwa in einem galiläischen Kreise entstanden war, in andere Gegenden kam, wo ein anderer Theil der Ueberlieferung besonders lebendig sein mochte, so entstand das natürliche Interesse, auch diesen bisher nur mündlich fortgepflanzte» Stoff jener Grenzboten II. 1804. 48

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde im Rahmen des Moduls DTA-Erweiterungen (DTAE) digitalisiert. Weitere Informationen …

Staats- und Universitätsbibliothek (SuUB) Bremen: Bereitstellung der Texttranskription.
Kay-Michael Würzner: Bearbeitung der digitalen Edition.

Weitere Informationen:

Verfahren der Texterfassung: OCR mit Nachkorrektur.

Bogensignaturen: gekennzeichnet;Druckfehler: ignoriert;fremdsprachliches Material: nicht gekennzeichnet;Geminations-/Abkürzungsstriche: wie Vorlage;Hervorhebungen (Antiqua, Sperrschrift, Kursive etc.): nicht ausgezeichnet;i/j in Fraktur: wie Vorlage;I/J in Fraktur: wie Vorlage;Kolumnentitel: gekennzeichnet;Kustoden: gekennzeichnet;langes s (ſ): als s transkribiert;Normalisierungen: stillschweigend;rundes r (&#xa75b;): als r/et transkribiert;Seitenumbrüche markiert: ja;Silbentrennung: wie Vorlage;u/v bzw. U/V: wie Vorlage;Vokale mit übergest. e: als ä/ö/ü transkribiert;Vollständigkeit: vollständig erfasst;Zeichensetzung: wie Vorlage;Zeilenumbrüche markiert: ja;

Nachkorrektur erfolgte automatisch.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341799_188560
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341799_188560/385
Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 23, 1864, I. Semester. II. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341799_188560/385>, abgerufen am 23.07.2024.