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Die Grenzboten. Jg. 23, 1864, I. Semester. II. Band.

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Namen zweier Urapostel. des Johannes und des Matthäus, und zweier Apostel-
scbMcr, von welchen der eine. Marcus, ein Gefährte des Petrus, der andere,
Lucas. ein Begleiter des Apostels Paulus war. In einer Vierzahl historischer
Aufzeichnungen ist uns also das Leben Jesu von Nazareth überliefert, und so
hätten wir, wie es scheint, uns über Mangel an authentischen Nachrichten von den
Lebensumständen unseres Religionsstifters nicht zu beklagen. Jede dieser Relationen
scheint den anderen zur Bestätigung und Controle zu dienen, jede durch die
anderen ihre Ergänzung zu finden. So scheint es aber nur. In Wahrheit sind wir
über keine geschichtliche Erscheinung dürftiger unterrichtet als über das Leben
Jesu. Nirgends in der ganzen Literatur wiederholt sich der Fall, daß Quellen¬
schriften so schwierig zu gebrauche" sind, um auf sichere geschichtliche Resultate
zu leiten. Wir finden in ihnen wohl eine Menge von Erzählungen, insbesondere
von Anekdoten, aber was den tieferen Einblick in die geschichtlichen Bedingungen
betrifft, unter welchen das Leben dieses Galiläers sich entwickelt hat und von
so ungeheurer Bedeutung geworden ist, lassen sie uns fast gänzlich im Stiche.
Sie überliefern wohl ein Bild von Jesus, wie es einige Zeit nach seinem Tod
in der Gemeinde lebte, aber das Bild ist nicht mit den Augen eines Geschicht¬
schreibers geschaut, nicht mit dem Griffel eines Geschichtschreibers aufgezeichnet.
Wir müssen, indem wir in den Evangelien seine Spuren verfolgen, nicht blos
von den modernen Anforderungen an ein solches Lebensbild absehen, sondern
auch der Begriffe, die wir von der Historiographie des Alterthums in seinen
helleren Zeiten uns angeeignet haben, müssen wir uns in diesem Falle ent-
schlagen. Sie sind erbaulich, aber diese Eigenschaft macht aus ihnen noch nicht
auch zulängliche Geschichtsquellen.

Nun bliebe noch immer der Fall möglich, daß uns diese Relationen, wenn
auch eines höheren Monographischen Werths entbehrend, doch wenigstens treu,
und zuverlässig die äußeren Thatsachen überlieferten, deren Zeugen ihre angeb-
lichen Verfasser gewesen sind. schrieben diese schlicht und schmucklos dasjenige
nieder, waS sie selbst gesehen oder von Augenzeugen gehört hatten, so wären
uns ihre Berichte gleichwohl von unschätzbarem Werth. Allein gerade die Un¬
befangenheit einfacher, den Ereignissen zunächst stehender Erzähler will nun am
wenigsten zu der Beschaffenheit unserer Evangelien passen. Schon das viele
Wunderhafte, das ihren Berichten eingestreut ist, und nicht blos in kleinere
Erzählungen, sondern auch bei den Hauptereignissen des Lebens Jesu Eingang
gefunden hat, weist darauf hin, daß wir in den Erzählern ferner stehende
Personen zu suchen haben, denen ihr Stoff erst durch eine längere, freier ge¬
staltende Ueberlieferung zugekommen ist.. Je weiter die Entfernung zwischen der
geschichtlichen Gestalt des aus Kreuz geschlagenen Meisters und der Gegenwart
wurde, um so mehr l^gte sich um sein Haupt ein Strahlenkranz verklärender
Poesie. Die ursprüngliche Erinnerung an sein Leben verblaßte mit den Jahr-


Namen zweier Urapostel. des Johannes und des Matthäus, und zweier Apostel-
scbMcr, von welchen der eine. Marcus, ein Gefährte des Petrus, der andere,
Lucas. ein Begleiter des Apostels Paulus war. In einer Vierzahl historischer
Aufzeichnungen ist uns also das Leben Jesu von Nazareth überliefert, und so
hätten wir, wie es scheint, uns über Mangel an authentischen Nachrichten von den
Lebensumständen unseres Religionsstifters nicht zu beklagen. Jede dieser Relationen
scheint den anderen zur Bestätigung und Controle zu dienen, jede durch die
anderen ihre Ergänzung zu finden. So scheint es aber nur. In Wahrheit sind wir
über keine geschichtliche Erscheinung dürftiger unterrichtet als über das Leben
Jesu. Nirgends in der ganzen Literatur wiederholt sich der Fall, daß Quellen¬
schriften so schwierig zu gebrauche» sind, um auf sichere geschichtliche Resultate
zu leiten. Wir finden in ihnen wohl eine Menge von Erzählungen, insbesondere
von Anekdoten, aber was den tieferen Einblick in die geschichtlichen Bedingungen
betrifft, unter welchen das Leben dieses Galiläers sich entwickelt hat und von
so ungeheurer Bedeutung geworden ist, lassen sie uns fast gänzlich im Stiche.
Sie überliefern wohl ein Bild von Jesus, wie es einige Zeit nach seinem Tod
in der Gemeinde lebte, aber das Bild ist nicht mit den Augen eines Geschicht¬
schreibers geschaut, nicht mit dem Griffel eines Geschichtschreibers aufgezeichnet.
Wir müssen, indem wir in den Evangelien seine Spuren verfolgen, nicht blos
von den modernen Anforderungen an ein solches Lebensbild absehen, sondern
auch der Begriffe, die wir von der Historiographie des Alterthums in seinen
helleren Zeiten uns angeeignet haben, müssen wir uns in diesem Falle ent-
schlagen. Sie sind erbaulich, aber diese Eigenschaft macht aus ihnen noch nicht
auch zulängliche Geschichtsquellen.

Nun bliebe noch immer der Fall möglich, daß uns diese Relationen, wenn
auch eines höheren Monographischen Werths entbehrend, doch wenigstens treu,
und zuverlässig die äußeren Thatsachen überlieferten, deren Zeugen ihre angeb-
lichen Verfasser gewesen sind. schrieben diese schlicht und schmucklos dasjenige
nieder, waS sie selbst gesehen oder von Augenzeugen gehört hatten, so wären
uns ihre Berichte gleichwohl von unschätzbarem Werth. Allein gerade die Un¬
befangenheit einfacher, den Ereignissen zunächst stehender Erzähler will nun am
wenigsten zu der Beschaffenheit unserer Evangelien passen. Schon das viele
Wunderhafte, das ihren Berichten eingestreut ist, und nicht blos in kleinere
Erzählungen, sondern auch bei den Hauptereignissen des Lebens Jesu Eingang
gefunden hat, weist darauf hin, daß wir in den Erzählern ferner stehende
Personen zu suchen haben, denen ihr Stoff erst durch eine längere, freier ge¬
staltende Ueberlieferung zugekommen ist.. Je weiter die Entfernung zwischen der
geschichtlichen Gestalt des aus Kreuz geschlagenen Meisters und der Gegenwart
wurde, um so mehr l^gte sich um sein Haupt ein Strahlenkranz verklärender
Poesie. Die ursprüngliche Erinnerung an sein Leben verblaßte mit den Jahr-


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[0384] Namen zweier Urapostel. des Johannes und des Matthäus, und zweier Apostel- scbMcr, von welchen der eine. Marcus, ein Gefährte des Petrus, der andere, Lucas. ein Begleiter des Apostels Paulus war. In einer Vierzahl historischer Aufzeichnungen ist uns also das Leben Jesu von Nazareth überliefert, und so hätten wir, wie es scheint, uns über Mangel an authentischen Nachrichten von den Lebensumständen unseres Religionsstifters nicht zu beklagen. Jede dieser Relationen scheint den anderen zur Bestätigung und Controle zu dienen, jede durch die anderen ihre Ergänzung zu finden. So scheint es aber nur. In Wahrheit sind wir über keine geschichtliche Erscheinung dürftiger unterrichtet als über das Leben Jesu. Nirgends in der ganzen Literatur wiederholt sich der Fall, daß Quellen¬ schriften so schwierig zu gebrauche» sind, um auf sichere geschichtliche Resultate zu leiten. Wir finden in ihnen wohl eine Menge von Erzählungen, insbesondere von Anekdoten, aber was den tieferen Einblick in die geschichtlichen Bedingungen betrifft, unter welchen das Leben dieses Galiläers sich entwickelt hat und von so ungeheurer Bedeutung geworden ist, lassen sie uns fast gänzlich im Stiche. Sie überliefern wohl ein Bild von Jesus, wie es einige Zeit nach seinem Tod in der Gemeinde lebte, aber das Bild ist nicht mit den Augen eines Geschicht¬ schreibers geschaut, nicht mit dem Griffel eines Geschichtschreibers aufgezeichnet. Wir müssen, indem wir in den Evangelien seine Spuren verfolgen, nicht blos von den modernen Anforderungen an ein solches Lebensbild absehen, sondern auch der Begriffe, die wir von der Historiographie des Alterthums in seinen helleren Zeiten uns angeeignet haben, müssen wir uns in diesem Falle ent- schlagen. Sie sind erbaulich, aber diese Eigenschaft macht aus ihnen noch nicht auch zulängliche Geschichtsquellen. Nun bliebe noch immer der Fall möglich, daß uns diese Relationen, wenn auch eines höheren Monographischen Werths entbehrend, doch wenigstens treu, und zuverlässig die äußeren Thatsachen überlieferten, deren Zeugen ihre angeb- lichen Verfasser gewesen sind. schrieben diese schlicht und schmucklos dasjenige nieder, waS sie selbst gesehen oder von Augenzeugen gehört hatten, so wären uns ihre Berichte gleichwohl von unschätzbarem Werth. Allein gerade die Un¬ befangenheit einfacher, den Ereignissen zunächst stehender Erzähler will nun am wenigsten zu der Beschaffenheit unserer Evangelien passen. Schon das viele Wunderhafte, das ihren Berichten eingestreut ist, und nicht blos in kleinere Erzählungen, sondern auch bei den Hauptereignissen des Lebens Jesu Eingang gefunden hat, weist darauf hin, daß wir in den Erzählern ferner stehende Personen zu suchen haben, denen ihr Stoff erst durch eine längere, freier ge¬ staltende Ueberlieferung zugekommen ist.. Je weiter die Entfernung zwischen der geschichtlichen Gestalt des aus Kreuz geschlagenen Meisters und der Gegenwart wurde, um so mehr l^gte sich um sein Haupt ein Strahlenkranz verklärender Poesie. Die ursprüngliche Erinnerung an sein Leben verblaßte mit den Jahr-

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 23, 1864, I. Semester. II. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341799_188560/384>, abgerufen am 23.07.2024.