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Die Grenzboten. Jg. 23, 1864, I. Semester. II. Band.

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Wahl bestätigte und vervollständigte die Tendenz, welche der ersten zu Grunde
gelegen hatte. Jetzt war ein Mann gefunden, der die Gewähr gab, daß unter
ihm die Anarchie, welche man "die deutsche Libertät" nannte, gute Tage
haben werde; ein Mann, der, wie das Lied sagt, seinen dumpfen Ehrgeiz darein
setztet,ein Staar zu werden wie die anderen, während er zum Adler erhöht war."
Ungestört konnten nun die Rcichögliedmaßen auseinanderbröckcln. Aber die
größten unter ihnen waren nur erst politische Weichthiere, ohne schützende Schale,
ohne geschlossene Organisation; die kleinen solche Gebilde, auf die das aristotelische
Wort Anwendung fand, das, ein handgroßes Schiff überhaupt kein Schiff sei.
So auf Selbsttäuschung, Lüge und Eigensinn gestellt eröffnete die neue politische
Tendenz, indem sie das hehre Symbol der nationalen Macht dem schlechten
Manne preisgab, ihre Aera.

Dem Markgrafen ist es erspart worden, in dieser neuen Zeit zu leben.
Seine politische Niederlage vor Albrecht von Oestreich hat er das Reich als
solches nicht entgelten lassen; wenn auch verschmäht und zur Seite geschoben,
blieb er dennoch thätig zu fördern und zu helfen. Aber für sich selbst verzichtete
er, als die Königskrone bald aufs neue erledigt war. Er mußte den ferneren
Schmerz erfahren, daß auch der Candidat, den er aufstellte, den kürzern zog.
Dann ist er abgetreten von der politischen Bühne und noch im nämlichen
Jahre gestorben. Unwürdige Leichenfeier, die das Grab umtobte, in welches
ein solcher Held alle höchsten Wünsche und Hoffnungen des Lebens mit sich
nahm! Die Tage kamen, wo schnödes Interesse und schleichender Betrug den
von erhabenen Gedanken und geheiligter Tradition leer gelassnen Platz besetzten;
wo nach Gesichtspunkten sündigen Gewinnstes die weltbewegenden Fragen des
. geistlichen und weltlichen Systemes verunstaltet wurden, die nationale Kirche
den römischen Concordaten, die Neichsreform der wüsten Fehde und der Ver¬
schwörung zum Opfer siel. In dieser Atmosphäre hat auch die brandenburgische
Politik sich umbilden müssen. Durch das Princip der östreichischen Wahlen,
die nicht blos über die Frage "Habsburg oder Hohenzollern", sondern damit
zugleich über Sein und Nichtsein der politischen Einheit Deutschlands entschieden,
war der Lebcnsmethode des Staates, wie ihn Friedrich gewollt und getragen
hatte, die ideelle Grundlage entzogen. Den jungen Söhnen siel die Aufgabe
zu, nach dem Maßstab ihrer Mittel und.Kräfte einerseits und der thatsächlichen
Zustände andrerseits eine Stellung zu suchen, die der Zukunft rettete, was der
Gegenwart verloren war. Die alten Ideale waren überholt von der Wucht
der wirklichen Gestaltungen; nur eine unerschrockene Expcrimcntalpolitik schien
der entsprechende Einsatz in die Lotterie dieser bösen Zeit.

War es dieselbe nicht, an deren Ausgangsschwelle die Reformation steht?
Wohl, aber die Nation sollte erfahren, welche grimmigen Wehen der Erfüllung
dieses Wortes vorausgingen und folgten, das man seit einem Jahrhundert


Wahl bestätigte und vervollständigte die Tendenz, welche der ersten zu Grunde
gelegen hatte. Jetzt war ein Mann gefunden, der die Gewähr gab, daß unter
ihm die Anarchie, welche man „die deutsche Libertät" nannte, gute Tage
haben werde; ein Mann, der, wie das Lied sagt, seinen dumpfen Ehrgeiz darein
setztet,ein Staar zu werden wie die anderen, während er zum Adler erhöht war."
Ungestört konnten nun die Rcichögliedmaßen auseinanderbröckcln. Aber die
größten unter ihnen waren nur erst politische Weichthiere, ohne schützende Schale,
ohne geschlossene Organisation; die kleinen solche Gebilde, auf die das aristotelische
Wort Anwendung fand, das, ein handgroßes Schiff überhaupt kein Schiff sei.
So auf Selbsttäuschung, Lüge und Eigensinn gestellt eröffnete die neue politische
Tendenz, indem sie das hehre Symbol der nationalen Macht dem schlechten
Manne preisgab, ihre Aera.

Dem Markgrafen ist es erspart worden, in dieser neuen Zeit zu leben.
Seine politische Niederlage vor Albrecht von Oestreich hat er das Reich als
solches nicht entgelten lassen; wenn auch verschmäht und zur Seite geschoben,
blieb er dennoch thätig zu fördern und zu helfen. Aber für sich selbst verzichtete
er, als die Königskrone bald aufs neue erledigt war. Er mußte den ferneren
Schmerz erfahren, daß auch der Candidat, den er aufstellte, den kürzern zog.
Dann ist er abgetreten von der politischen Bühne und noch im nämlichen
Jahre gestorben. Unwürdige Leichenfeier, die das Grab umtobte, in welches
ein solcher Held alle höchsten Wünsche und Hoffnungen des Lebens mit sich
nahm! Die Tage kamen, wo schnödes Interesse und schleichender Betrug den
von erhabenen Gedanken und geheiligter Tradition leer gelassnen Platz besetzten;
wo nach Gesichtspunkten sündigen Gewinnstes die weltbewegenden Fragen des
. geistlichen und weltlichen Systemes verunstaltet wurden, die nationale Kirche
den römischen Concordaten, die Neichsreform der wüsten Fehde und der Ver¬
schwörung zum Opfer siel. In dieser Atmosphäre hat auch die brandenburgische
Politik sich umbilden müssen. Durch das Princip der östreichischen Wahlen,
die nicht blos über die Frage „Habsburg oder Hohenzollern", sondern damit
zugleich über Sein und Nichtsein der politischen Einheit Deutschlands entschieden,
war der Lebcnsmethode des Staates, wie ihn Friedrich gewollt und getragen
hatte, die ideelle Grundlage entzogen. Den jungen Söhnen siel die Aufgabe
zu, nach dem Maßstab ihrer Mittel und.Kräfte einerseits und der thatsächlichen
Zustände andrerseits eine Stellung zu suchen, die der Zukunft rettete, was der
Gegenwart verloren war. Die alten Ideale waren überholt von der Wucht
der wirklichen Gestaltungen; nur eine unerschrockene Expcrimcntalpolitik schien
der entsprechende Einsatz in die Lotterie dieser bösen Zeit.

War es dieselbe nicht, an deren Ausgangsschwelle die Reformation steht?
Wohl, aber die Nation sollte erfahren, welche grimmigen Wehen der Erfüllung
dieses Wortes vorausgingen und folgten, das man seit einem Jahrhundert


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[0035] Wahl bestätigte und vervollständigte die Tendenz, welche der ersten zu Grunde gelegen hatte. Jetzt war ein Mann gefunden, der die Gewähr gab, daß unter ihm die Anarchie, welche man „die deutsche Libertät" nannte, gute Tage haben werde; ein Mann, der, wie das Lied sagt, seinen dumpfen Ehrgeiz darein setztet,ein Staar zu werden wie die anderen, während er zum Adler erhöht war." Ungestört konnten nun die Rcichögliedmaßen auseinanderbröckcln. Aber die größten unter ihnen waren nur erst politische Weichthiere, ohne schützende Schale, ohne geschlossene Organisation; die kleinen solche Gebilde, auf die das aristotelische Wort Anwendung fand, das, ein handgroßes Schiff überhaupt kein Schiff sei. So auf Selbsttäuschung, Lüge und Eigensinn gestellt eröffnete die neue politische Tendenz, indem sie das hehre Symbol der nationalen Macht dem schlechten Manne preisgab, ihre Aera. Dem Markgrafen ist es erspart worden, in dieser neuen Zeit zu leben. Seine politische Niederlage vor Albrecht von Oestreich hat er das Reich als solches nicht entgelten lassen; wenn auch verschmäht und zur Seite geschoben, blieb er dennoch thätig zu fördern und zu helfen. Aber für sich selbst verzichtete er, als die Königskrone bald aufs neue erledigt war. Er mußte den ferneren Schmerz erfahren, daß auch der Candidat, den er aufstellte, den kürzern zog. Dann ist er abgetreten von der politischen Bühne und noch im nämlichen Jahre gestorben. Unwürdige Leichenfeier, die das Grab umtobte, in welches ein solcher Held alle höchsten Wünsche und Hoffnungen des Lebens mit sich nahm! Die Tage kamen, wo schnödes Interesse und schleichender Betrug den von erhabenen Gedanken und geheiligter Tradition leer gelassnen Platz besetzten; wo nach Gesichtspunkten sündigen Gewinnstes die weltbewegenden Fragen des . geistlichen und weltlichen Systemes verunstaltet wurden, die nationale Kirche den römischen Concordaten, die Neichsreform der wüsten Fehde und der Ver¬ schwörung zum Opfer siel. In dieser Atmosphäre hat auch die brandenburgische Politik sich umbilden müssen. Durch das Princip der östreichischen Wahlen, die nicht blos über die Frage „Habsburg oder Hohenzollern", sondern damit zugleich über Sein und Nichtsein der politischen Einheit Deutschlands entschieden, war der Lebcnsmethode des Staates, wie ihn Friedrich gewollt und getragen hatte, die ideelle Grundlage entzogen. Den jungen Söhnen siel die Aufgabe zu, nach dem Maßstab ihrer Mittel und.Kräfte einerseits und der thatsächlichen Zustände andrerseits eine Stellung zu suchen, die der Zukunft rettete, was der Gegenwart verloren war. Die alten Ideale waren überholt von der Wucht der wirklichen Gestaltungen; nur eine unerschrockene Expcrimcntalpolitik schien der entsprechende Einsatz in die Lotterie dieser bösen Zeit. War es dieselbe nicht, an deren Ausgangsschwelle die Reformation steht? Wohl, aber die Nation sollte erfahren, welche grimmigen Wehen der Erfüllung dieses Wortes vorausgingen und folgten, das man seit einem Jahrhundert

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 23, 1864, I. Semester. II. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341799_188560/35>, abgerufen am 25.08.2024.