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Die Grenzboten. Jg. 23, 1864, I. Semester. II. Band.

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lesen in derselben Stunde, daß wenige Stunden vorher der Vicekönig von
Aegypten eine Fahrt auf dem Nil gemacht, oder daß auf der Höhe von Lissa¬
bon ein Schiff mit Mann und Maus untergegangen ist. Was mit uns lebt,
was um uns gesucht, dringt so mannigfaltig durch jede Oeffnung unseres
Hauses, in unsere vielbeschäftigte Seele, daß mir jedem neuen Ereigniß nur
ein gewisses bescheidenes Maß von Erstaune" und Ueberraschung zu gön¬
nen im Stande sind. Es geschieht so viel Neues unter der Sonne, und mir
genießen das Neueste so reichlich, daß auch der wichtigste Fund, die größte Ent¬
deckung kaum noch im Stande sind, die allgemeine Theilnahme auf längere
Zeit und ausschließlich in Anspruch zu nehmen. Und es wird dem jüngeren
Geschlecht bereits schwer sich in die Zustände unserer Väter und Großväter
zurückzudenken, wo man von Frankfurt bis Berlin acht bis zehn Tage reiste,
und wo ein Liebender in München, der an seine Geliebte in Danzig schrieb,
vier Wochen warten mußte, ehe er erfuhr, wie Befinden und Liebe vor vier¬
zehn Tagen gewesen waren.

Unvergleichlich größer sind die Kreise geworden, in welche das Jnteicsse
des Einzelnen hineinreicht, und sehr viel massenhafter die Eindrücke, welche
die Außenwelt dem Einzelnen in die Seele sendet. Es ist möglich, daß die
Zukunft unser Leben ähnlich betrachten wird, wie wir die Zeit der Großväter,
als ein Dasein verhältnißmäßiger Stille und Isolirtheit. auffallend durch die
Dürftigkeit der Bilder, welche wir verarbeiten. Denn es ist sehr wahrschein¬
lich, daß Erfindungen und Cultur in schnell steigender Progression sich erwei¬
tern, und wir haben keinen Grund anzunehmen, daß es für unsere Fähigkeit
Eindrücke zu verarbeiten überhaupt eine bestimmbare Grenze giebt.

Unrerdeß ist uns Lebenden unverwehrt, unser Dasein gegenüber dem engeren
Leben unserer Vorfahren als ein reiches zu betrachten und mit Selbstgefühl an
die Zustände früherer Zeit zu halten.

Es ist leicht begreiflich, daß im Jahr 1787 das Neue lebhafter auf die
Menschen einwirkte, weil es seltener kam, daß es länger in den Seelen nach¬
klang, daß man dem Neuen weniger Widerstand entgegenzusehen hatte, und
daß in solcher Zeit auch das Kleine höhere Wichtigkeit erhielt. Aber es ist
lehrreich, daß nicht alles Neue deshalb stärker ergriff, weil es selten kam, und
daß es nach vielen Richtungen oft deshalb nicht häufiger kam, weil es keinen
genügenden Antheil für sich zu gewinnen wußte. Und grade bei den Neuig¬
keiten, welche uns obenan stehen, den politischen, ist sichtbar, wie erst nach und
nach durch das verstärkte Eindringen des Fremden in das Stillleben des Deut¬
schen die Empfänglichfeit dafür gekräftigt wurde.

In den achtziger Jahren des vergangenen Jahrhunderts zogen in eine
größere Stadt des innern Deutschlands allerdings jeden Tag Neuigkeiten aus
der Fremde; deun das Posthorn blies bereits täglich durch die Straßen, aber


Grenzboten II. 18V4. 43

lesen in derselben Stunde, daß wenige Stunden vorher der Vicekönig von
Aegypten eine Fahrt auf dem Nil gemacht, oder daß auf der Höhe von Lissa¬
bon ein Schiff mit Mann und Maus untergegangen ist. Was mit uns lebt,
was um uns gesucht, dringt so mannigfaltig durch jede Oeffnung unseres
Hauses, in unsere vielbeschäftigte Seele, daß mir jedem neuen Ereigniß nur
ein gewisses bescheidenes Maß von Erstaune» und Ueberraschung zu gön¬
nen im Stande sind. Es geschieht so viel Neues unter der Sonne, und mir
genießen das Neueste so reichlich, daß auch der wichtigste Fund, die größte Ent¬
deckung kaum noch im Stande sind, die allgemeine Theilnahme auf längere
Zeit und ausschließlich in Anspruch zu nehmen. Und es wird dem jüngeren
Geschlecht bereits schwer sich in die Zustände unserer Väter und Großväter
zurückzudenken, wo man von Frankfurt bis Berlin acht bis zehn Tage reiste,
und wo ein Liebender in München, der an seine Geliebte in Danzig schrieb,
vier Wochen warten mußte, ehe er erfuhr, wie Befinden und Liebe vor vier¬
zehn Tagen gewesen waren.

Unvergleichlich größer sind die Kreise geworden, in welche das Jnteicsse
des Einzelnen hineinreicht, und sehr viel massenhafter die Eindrücke, welche
die Außenwelt dem Einzelnen in die Seele sendet. Es ist möglich, daß die
Zukunft unser Leben ähnlich betrachten wird, wie wir die Zeit der Großväter,
als ein Dasein verhältnißmäßiger Stille und Isolirtheit. auffallend durch die
Dürftigkeit der Bilder, welche wir verarbeiten. Denn es ist sehr wahrschein¬
lich, daß Erfindungen und Cultur in schnell steigender Progression sich erwei¬
tern, und wir haben keinen Grund anzunehmen, daß es für unsere Fähigkeit
Eindrücke zu verarbeiten überhaupt eine bestimmbare Grenze giebt.

Unrerdeß ist uns Lebenden unverwehrt, unser Dasein gegenüber dem engeren
Leben unserer Vorfahren als ein reiches zu betrachten und mit Selbstgefühl an
die Zustände früherer Zeit zu halten.

Es ist leicht begreiflich, daß im Jahr 1787 das Neue lebhafter auf die
Menschen einwirkte, weil es seltener kam, daß es länger in den Seelen nach¬
klang, daß man dem Neuen weniger Widerstand entgegenzusehen hatte, und
daß in solcher Zeit auch das Kleine höhere Wichtigkeit erhielt. Aber es ist
lehrreich, daß nicht alles Neue deshalb stärker ergriff, weil es selten kam, und
daß es nach vielen Richtungen oft deshalb nicht häufiger kam, weil es keinen
genügenden Antheil für sich zu gewinnen wußte. Und grade bei den Neuig¬
keiten, welche uns obenan stehen, den politischen, ist sichtbar, wie erst nach und
nach durch das verstärkte Eindringen des Fremden in das Stillleben des Deut¬
schen die Empfänglichfeit dafür gekräftigt wurde.

In den achtziger Jahren des vergangenen Jahrhunderts zogen in eine
größere Stadt des innern Deutschlands allerdings jeden Tag Neuigkeiten aus
der Fremde; deun das Posthorn blies bereits täglich durch die Straßen, aber


Grenzboten II. 18V4. 43
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[0345] lesen in derselben Stunde, daß wenige Stunden vorher der Vicekönig von Aegypten eine Fahrt auf dem Nil gemacht, oder daß auf der Höhe von Lissa¬ bon ein Schiff mit Mann und Maus untergegangen ist. Was mit uns lebt, was um uns gesucht, dringt so mannigfaltig durch jede Oeffnung unseres Hauses, in unsere vielbeschäftigte Seele, daß mir jedem neuen Ereigniß nur ein gewisses bescheidenes Maß von Erstaune» und Ueberraschung zu gön¬ nen im Stande sind. Es geschieht so viel Neues unter der Sonne, und mir genießen das Neueste so reichlich, daß auch der wichtigste Fund, die größte Ent¬ deckung kaum noch im Stande sind, die allgemeine Theilnahme auf längere Zeit und ausschließlich in Anspruch zu nehmen. Und es wird dem jüngeren Geschlecht bereits schwer sich in die Zustände unserer Väter und Großväter zurückzudenken, wo man von Frankfurt bis Berlin acht bis zehn Tage reiste, und wo ein Liebender in München, der an seine Geliebte in Danzig schrieb, vier Wochen warten mußte, ehe er erfuhr, wie Befinden und Liebe vor vier¬ zehn Tagen gewesen waren. Unvergleichlich größer sind die Kreise geworden, in welche das Jnteicsse des Einzelnen hineinreicht, und sehr viel massenhafter die Eindrücke, welche die Außenwelt dem Einzelnen in die Seele sendet. Es ist möglich, daß die Zukunft unser Leben ähnlich betrachten wird, wie wir die Zeit der Großväter, als ein Dasein verhältnißmäßiger Stille und Isolirtheit. auffallend durch die Dürftigkeit der Bilder, welche wir verarbeiten. Denn es ist sehr wahrschein¬ lich, daß Erfindungen und Cultur in schnell steigender Progression sich erwei¬ tern, und wir haben keinen Grund anzunehmen, daß es für unsere Fähigkeit Eindrücke zu verarbeiten überhaupt eine bestimmbare Grenze giebt. Unrerdeß ist uns Lebenden unverwehrt, unser Dasein gegenüber dem engeren Leben unserer Vorfahren als ein reiches zu betrachten und mit Selbstgefühl an die Zustände früherer Zeit zu halten. Es ist leicht begreiflich, daß im Jahr 1787 das Neue lebhafter auf die Menschen einwirkte, weil es seltener kam, daß es länger in den Seelen nach¬ klang, daß man dem Neuen weniger Widerstand entgegenzusehen hatte, und daß in solcher Zeit auch das Kleine höhere Wichtigkeit erhielt. Aber es ist lehrreich, daß nicht alles Neue deshalb stärker ergriff, weil es selten kam, und daß es nach vielen Richtungen oft deshalb nicht häufiger kam, weil es keinen genügenden Antheil für sich zu gewinnen wußte. Und grade bei den Neuig¬ keiten, welche uns obenan stehen, den politischen, ist sichtbar, wie erst nach und nach durch das verstärkte Eindringen des Fremden in das Stillleben des Deut¬ schen die Empfänglichfeit dafür gekräftigt wurde. In den achtziger Jahren des vergangenen Jahrhunderts zogen in eine größere Stadt des innern Deutschlands allerdings jeden Tag Neuigkeiten aus der Fremde; deun das Posthorn blies bereits täglich durch die Straßen, aber Grenzboten II. 18V4. 43

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 23, 1864, I. Semester. II. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341799_188560/345>, abgerufen am 23.07.2024.