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Die Grenzboten. Jg. 23, 1864, I. Semester. II. Band.

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wieder überarbeitet, die ursprünglichen Verfasser aber ungeachtet der späteren
Veränderungen auf dem Titel belassen wurden. Dieser Fall ist zum Beispiel
bei den drei ersten Evangelien denkbar, deren Überschriften im Griechischen ja
bekanntlich auch gar nicht lauten: Evangelium des Matthäus, des Lukas,
sondern nacb Matthäus, nach Lukas u, s, w., eine Bezeichnung, in welcher
sich eben die Spur späterer Bearbeitungen deutlich erhalten hat. Eine Spruch-
sammlung, welche zum Apostel Matthäus hinaufreicht, mag den Grundstock
der Evangelienlitcratur gebildet haben, aus welchem neben anderen Verzweigun¬
gen durch mehrfache Ueberarbeitung unser jetziges Evangelium dieses Namens
hervorging. Die Apostelgeschichte besteht sichtlich aus mehren ungleichartigen
Theilen, die erst später zu einem Ganzen zusammengeschmolzen worden sind.
So ist namentlich im zweiten Theile der Reisebericht eines Begleiters des
Apostels Paulus benutzt. Da nun ein Lukas als Begleiter des Paulus ge¬
nannt wird, schrieb man ihm, mit Recht oder Unrecht, die Abfassung dieses
Berichts zu, und dieser Name blieb dann auch sür den späteren compilatori-
schen Verfasser der Apostelgeschichte. Und da nun derselbe Verfasser mit Be¬
nutzung älterer Evangelien auch ein neues paulinisches Evangelium schrieb,
wurde diesem gleichfalls der Name des Lukas vorgesetzt. So mag der Ver¬
sasser unsrer dritten, nach Markus benannten Evangelienschrift neben Matthäus
und Lukas noch ein weiteres, dem Markus zugeschriebenes Evangelium benutzt
haben, dessen Name dann auf die spätere Schrift übertragen wurde.

Aber auch wenn solche Anknüpfungspunkte nicht vorhanden waren, hat
dies Zurückdatiren einer späteren Schrift in den apostolischen Kreis hinaus
nichts, was in jener Zeit irgendwie auffallend oder gar in sittlicher Beziehung
anstößig sein konnte. Ein in der alezandrinischcn Religionsphilosophie gebilde¬
ter Christ arbeitet den Evangelienstoss nach seinen Ideen um; er thut es in dem
Bewußtsein, im Gegensatz zu den älteren Evangelien erst den wahren Sinn
des Christenthums erschaut zu haben und erfüllt von der Mission, das Erschaute
der Welt bekannt zu machen; dabei versetzt er sich in den Geist des Lieblings¬
jüngers Jesu, er schreibt gleichsam eine neue Vision im Sinne der fortgeschritte¬
nen Entwicklung des Christenthums, wie der Dichter der Offenbarung in seiner
Vision die judenchristlichen Ideen niedergelegt hatte. Der Verfasser des vierten
Evangeliums bevorzugt sichtlich den Apostel Johannes und rückt dasselbe ge¬
flissentlich in den Kreis der johanneischen Tradition; doch sagt er nirgends, daß
er der Apostel Johannes selbst sei, wie er denn vielmehr überall von diesem
in der dritten Person redet, ja sich ausdrücklich von ihm unterscheidet. Erst
später schritt man, wie der unechte Anhang des Evangeliums beweist, dazu
fort, den Verfasser ausdrücklich sich als den Apostel selbst bezeugen zu lassen.

Ganz besonders aber war es nun in der nachapostolischen Kirche ein prak¬
tischer Zweck, der diese Unterschiebungen begünstigte. Die meisten Briefe, welche


wieder überarbeitet, die ursprünglichen Verfasser aber ungeachtet der späteren
Veränderungen auf dem Titel belassen wurden. Dieser Fall ist zum Beispiel
bei den drei ersten Evangelien denkbar, deren Überschriften im Griechischen ja
bekanntlich auch gar nicht lauten: Evangelium des Matthäus, des Lukas,
sondern nacb Matthäus, nach Lukas u, s, w., eine Bezeichnung, in welcher
sich eben die Spur späterer Bearbeitungen deutlich erhalten hat. Eine Spruch-
sammlung, welche zum Apostel Matthäus hinaufreicht, mag den Grundstock
der Evangelienlitcratur gebildet haben, aus welchem neben anderen Verzweigun¬
gen durch mehrfache Ueberarbeitung unser jetziges Evangelium dieses Namens
hervorging. Die Apostelgeschichte besteht sichtlich aus mehren ungleichartigen
Theilen, die erst später zu einem Ganzen zusammengeschmolzen worden sind.
So ist namentlich im zweiten Theile der Reisebericht eines Begleiters des
Apostels Paulus benutzt. Da nun ein Lukas als Begleiter des Paulus ge¬
nannt wird, schrieb man ihm, mit Recht oder Unrecht, die Abfassung dieses
Berichts zu, und dieser Name blieb dann auch sür den späteren compilatori-
schen Verfasser der Apostelgeschichte. Und da nun derselbe Verfasser mit Be¬
nutzung älterer Evangelien auch ein neues paulinisches Evangelium schrieb,
wurde diesem gleichfalls der Name des Lukas vorgesetzt. So mag der Ver¬
sasser unsrer dritten, nach Markus benannten Evangelienschrift neben Matthäus
und Lukas noch ein weiteres, dem Markus zugeschriebenes Evangelium benutzt
haben, dessen Name dann auf die spätere Schrift übertragen wurde.

Aber auch wenn solche Anknüpfungspunkte nicht vorhanden waren, hat
dies Zurückdatiren einer späteren Schrift in den apostolischen Kreis hinaus
nichts, was in jener Zeit irgendwie auffallend oder gar in sittlicher Beziehung
anstößig sein konnte. Ein in der alezandrinischcn Religionsphilosophie gebilde¬
ter Christ arbeitet den Evangelienstoss nach seinen Ideen um; er thut es in dem
Bewußtsein, im Gegensatz zu den älteren Evangelien erst den wahren Sinn
des Christenthums erschaut zu haben und erfüllt von der Mission, das Erschaute
der Welt bekannt zu machen; dabei versetzt er sich in den Geist des Lieblings¬
jüngers Jesu, er schreibt gleichsam eine neue Vision im Sinne der fortgeschritte¬
nen Entwicklung des Christenthums, wie der Dichter der Offenbarung in seiner
Vision die judenchristlichen Ideen niedergelegt hatte. Der Verfasser des vierten
Evangeliums bevorzugt sichtlich den Apostel Johannes und rückt dasselbe ge¬
flissentlich in den Kreis der johanneischen Tradition; doch sagt er nirgends, daß
er der Apostel Johannes selbst sei, wie er denn vielmehr überall von diesem
in der dritten Person redet, ja sich ausdrücklich von ihm unterscheidet. Erst
später schritt man, wie der unechte Anhang des Evangeliums beweist, dazu
fort, den Verfasser ausdrücklich sich als den Apostel selbst bezeugen zu lassen.

Ganz besonders aber war es nun in der nachapostolischen Kirche ein prak¬
tischer Zweck, der diese Unterschiebungen begünstigte. Die meisten Briefe, welche


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[0318] wieder überarbeitet, die ursprünglichen Verfasser aber ungeachtet der späteren Veränderungen auf dem Titel belassen wurden. Dieser Fall ist zum Beispiel bei den drei ersten Evangelien denkbar, deren Überschriften im Griechischen ja bekanntlich auch gar nicht lauten: Evangelium des Matthäus, des Lukas, sondern nacb Matthäus, nach Lukas u, s, w., eine Bezeichnung, in welcher sich eben die Spur späterer Bearbeitungen deutlich erhalten hat. Eine Spruch- sammlung, welche zum Apostel Matthäus hinaufreicht, mag den Grundstock der Evangelienlitcratur gebildet haben, aus welchem neben anderen Verzweigun¬ gen durch mehrfache Ueberarbeitung unser jetziges Evangelium dieses Namens hervorging. Die Apostelgeschichte besteht sichtlich aus mehren ungleichartigen Theilen, die erst später zu einem Ganzen zusammengeschmolzen worden sind. So ist namentlich im zweiten Theile der Reisebericht eines Begleiters des Apostels Paulus benutzt. Da nun ein Lukas als Begleiter des Paulus ge¬ nannt wird, schrieb man ihm, mit Recht oder Unrecht, die Abfassung dieses Berichts zu, und dieser Name blieb dann auch sür den späteren compilatori- schen Verfasser der Apostelgeschichte. Und da nun derselbe Verfasser mit Be¬ nutzung älterer Evangelien auch ein neues paulinisches Evangelium schrieb, wurde diesem gleichfalls der Name des Lukas vorgesetzt. So mag der Ver¬ sasser unsrer dritten, nach Markus benannten Evangelienschrift neben Matthäus und Lukas noch ein weiteres, dem Markus zugeschriebenes Evangelium benutzt haben, dessen Name dann auf die spätere Schrift übertragen wurde. Aber auch wenn solche Anknüpfungspunkte nicht vorhanden waren, hat dies Zurückdatiren einer späteren Schrift in den apostolischen Kreis hinaus nichts, was in jener Zeit irgendwie auffallend oder gar in sittlicher Beziehung anstößig sein konnte. Ein in der alezandrinischcn Religionsphilosophie gebilde¬ ter Christ arbeitet den Evangelienstoss nach seinen Ideen um; er thut es in dem Bewußtsein, im Gegensatz zu den älteren Evangelien erst den wahren Sinn des Christenthums erschaut zu haben und erfüllt von der Mission, das Erschaute der Welt bekannt zu machen; dabei versetzt er sich in den Geist des Lieblings¬ jüngers Jesu, er schreibt gleichsam eine neue Vision im Sinne der fortgeschritte¬ nen Entwicklung des Christenthums, wie der Dichter der Offenbarung in seiner Vision die judenchristlichen Ideen niedergelegt hatte. Der Verfasser des vierten Evangeliums bevorzugt sichtlich den Apostel Johannes und rückt dasselbe ge¬ flissentlich in den Kreis der johanneischen Tradition; doch sagt er nirgends, daß er der Apostel Johannes selbst sei, wie er denn vielmehr überall von diesem in der dritten Person redet, ja sich ausdrücklich von ihm unterscheidet. Erst später schritt man, wie der unechte Anhang des Evangeliums beweist, dazu fort, den Verfasser ausdrücklich sich als den Apostel selbst bezeugen zu lassen. Ganz besonders aber war es nun in der nachapostolischen Kirche ein prak¬ tischer Zweck, der diese Unterschiebungen begünstigte. Die meisten Briefe, welche

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 23, 1864, I. Semester. II. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341799_188560/318>, abgerufen am 23.07.2024.