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Die Grenzboten. Jg. 23, 1864, I. Semester. II. Band.

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liehen Kritik ihren traditionellen Verfassern nicht abgesprochen worden, sondern
es sind gerade von diesen echten Schriften aus die Mittel für die Orientirung
auf dem übrigen Gebiet des Kanon gesucht worden. Mit dem anderen Ein¬
wand, daß die Kirche solche Täuschungen sich nicht habe gefallen lassen, sind
wir bereits im Reinen. Wir kennen die kritische Zuverlässigkeit, den histori¬
schen Tact der gelehrtesten Väter, und es fehlt ja nicht an zahlreichen Bei¬
spielen dafür, daß unzweifelhaft untergeschobene Schriften, die später als unecht
verworfen wurden, früher und zwar sehr bald nach ihrer Abfassung in weiten
Kreisen für echt angesehen wurden. Was aber endlich die moralische Unmög¬
lichkeit solcher Unterschiebungen betrifft, so ist es durchaus verkehrt, die Be¬
griffe unsrer heutigen Moral auf jene Zeiten und Verhältnisse anzuwenden.
Jede Zeit will nach ihrem eigenen Maßstab gemessen werden. Nun ist es nach
unsern Begriffen freilich eine grobe Täuschung, wenn ein Verfasser seiner Schrift
den Namen eines Anderen vorsetzte Allein eben dieser Maßstab ist der schrift¬
stellerischen Thätigkeit jener Zeit etwas völlig Fremdes. Der Begriff des geistigen
Eigenthums war noch ganz unentwickelt, das Persönliche, Individuelle trat
durchaus zurück gegen den Inhalt einer Schrift; um diesen allein war es zu
thun, und um ihm im Interesse der Sacke größere Autorität zu geben, schickte
man sie unter dem Namen einer bedeutenden, hochgeltenden Persönlichkeit in
die Welt. Dieser Name sollte nickt mißbraucht, sonder" im Gegentheil geehrt
werden, wie denn der Verfasser der noch vorhandenen Schrift: Thaten des
Paulus und derThetla. über seinen Betrug zur Rede gestellt, erklärte, er habe
aus Liebe zum Apostel diesen als Verfasser auf dem Titel genannt. Man war
überzeugt, im Geist und Sinn jener Männer zu reden; man hatte kein Arg
bei der Unterstellung, daß dieselben, wenn sie heute in diesen bestimmten Ver¬
hältnissen lebten, in solchem Sinn ihre gewichtige Stimme erheben und an
den Kämpfen der Zeit sich betheiligen würden. Eben dieser Art von Unter¬
schiebungen hatte das classische Alterthum, insbesondere aber die jüdische Lite¬
ratur vorgearbeitet. Nicht blos apokryphische Bücher, wie das vierte Buch
Esra, das Buch Henoch sind auf diese Weise entstanden, sondern von einer
Reihe in unserm alttestamentlichen Kanon befindlicher Schriften, vom Prediger,
von den Sprüchwörtern Salomos, vom Buch der Weisheit, von vielen aus
David lautenden Psalmen, von den Weissagungen Daniels, vom zweiten Theil
des Jesaias ist heute nachgewiesen, daß sie nicht von ihren angeblichen Ver¬
fassern herrühren,' ohne daß man dabei an Fälschung und Betrug denkt. So
sollte denn auch bei vielen unserer neutestamentlicken Schriften die Angabe
ihres apostolischen Ursprungs nur dazu dienen, ihren Inhalt als apostolisch zu
empfehlen, weil man damit sicher war, ihrer Tendenz, die man als eine echt
christliche und kirchliche wußte, in weiten Kreisen Eingang zu verschaffen. Dabei
konnte es geschehen, daß schon vorhandene Schriften blos überarbeitet und


liehen Kritik ihren traditionellen Verfassern nicht abgesprochen worden, sondern
es sind gerade von diesen echten Schriften aus die Mittel für die Orientirung
auf dem übrigen Gebiet des Kanon gesucht worden. Mit dem anderen Ein¬
wand, daß die Kirche solche Täuschungen sich nicht habe gefallen lassen, sind
wir bereits im Reinen. Wir kennen die kritische Zuverlässigkeit, den histori¬
schen Tact der gelehrtesten Väter, und es fehlt ja nicht an zahlreichen Bei¬
spielen dafür, daß unzweifelhaft untergeschobene Schriften, die später als unecht
verworfen wurden, früher und zwar sehr bald nach ihrer Abfassung in weiten
Kreisen für echt angesehen wurden. Was aber endlich die moralische Unmög¬
lichkeit solcher Unterschiebungen betrifft, so ist es durchaus verkehrt, die Be¬
griffe unsrer heutigen Moral auf jene Zeiten und Verhältnisse anzuwenden.
Jede Zeit will nach ihrem eigenen Maßstab gemessen werden. Nun ist es nach
unsern Begriffen freilich eine grobe Täuschung, wenn ein Verfasser seiner Schrift
den Namen eines Anderen vorsetzte Allein eben dieser Maßstab ist der schrift¬
stellerischen Thätigkeit jener Zeit etwas völlig Fremdes. Der Begriff des geistigen
Eigenthums war noch ganz unentwickelt, das Persönliche, Individuelle trat
durchaus zurück gegen den Inhalt einer Schrift; um diesen allein war es zu
thun, und um ihm im Interesse der Sacke größere Autorität zu geben, schickte
man sie unter dem Namen einer bedeutenden, hochgeltenden Persönlichkeit in
die Welt. Dieser Name sollte nickt mißbraucht, sonder» im Gegentheil geehrt
werden, wie denn der Verfasser der noch vorhandenen Schrift: Thaten des
Paulus und derThetla. über seinen Betrug zur Rede gestellt, erklärte, er habe
aus Liebe zum Apostel diesen als Verfasser auf dem Titel genannt. Man war
überzeugt, im Geist und Sinn jener Männer zu reden; man hatte kein Arg
bei der Unterstellung, daß dieselben, wenn sie heute in diesen bestimmten Ver¬
hältnissen lebten, in solchem Sinn ihre gewichtige Stimme erheben und an
den Kämpfen der Zeit sich betheiligen würden. Eben dieser Art von Unter¬
schiebungen hatte das classische Alterthum, insbesondere aber die jüdische Lite¬
ratur vorgearbeitet. Nicht blos apokryphische Bücher, wie das vierte Buch
Esra, das Buch Henoch sind auf diese Weise entstanden, sondern von einer
Reihe in unserm alttestamentlichen Kanon befindlicher Schriften, vom Prediger,
von den Sprüchwörtern Salomos, vom Buch der Weisheit, von vielen aus
David lautenden Psalmen, von den Weissagungen Daniels, vom zweiten Theil
des Jesaias ist heute nachgewiesen, daß sie nicht von ihren angeblichen Ver¬
fassern herrühren,' ohne daß man dabei an Fälschung und Betrug denkt. So
sollte denn auch bei vielen unserer neutestamentlicken Schriften die Angabe
ihres apostolischen Ursprungs nur dazu dienen, ihren Inhalt als apostolisch zu
empfehlen, weil man damit sicher war, ihrer Tendenz, die man als eine echt
christliche und kirchliche wußte, in weiten Kreisen Eingang zu verschaffen. Dabei
konnte es geschehen, daß schon vorhandene Schriften blos überarbeitet und


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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 23, 1864, I. Semester. II. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341799_188560/317>, abgerufen am 23.07.2024.