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Die Grenzboten. Jg. 23, 1864, I. Semester. II. Band.

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des als ein Wort des Herrn angeführt: "Tage werden kommen, da werden
Neben wachsen, jede mit 10,000 Schößlingen, und an jedem Schößling 10,000
Aeste, und an jedem Ast 10,000 Zweige, und an jedem Zweig 10,000 Trauben,
und an jeder Traube 10,000 Beeren, gleicherweise wird ein Weizenkorn 10.000
Aehren geben und jede Aehre 10.000 Körner, und jedes Korn 10 Pfund Weißes
reines Semmelmehl und die übrigen Früchte und Kräuter nach Verhältniß."
Irenäus glaubte an dieses durch den Apostel Johannes vermittelte Herrnwort,
enorm die Lehre vom tausendjährigen Reich in krassester Weise versinnbildlicht
ist -- gewiß kein Beweis, daß er den eigenthümlich geistigen Gehalt des Jo-
hanncscvangcliums zu würdigen und überhaupt ein kritisches Urtheil abzugeben
befähigt war. Derselbe Tertullian, der ebenfalls für die Echtheit dieses Evan¬
geliums zeugt, glaubt zugleich fest an die Wahrheit der Legende, daß der
Apostel Johannes in brennendes Oel gestürzt wurde, unversehrt daraus hervor¬
ging und daraus nach der Insel Palaos verbannt wurde, und so ist keine Le¬
gende wunderhast und unglaublich genug, die bei diesen Bädern der Kirche
nicht willig Glauben fände. Alles darf man bei ihnen eher suchen, als kriti¬
schen Sinn und Sicherheit gegen Betrug und Täuschung. Ihr Interesse war
ein dem kritischen geradezu entgegengesetztes. Sie nahmen an, was ihnen er¬
baulich schien. Warum sollten sie die wunderhaften Legenden nicht glauben
und verbreiten, die ihnen eine Bestätigung der Wundernacht des Christenthums
waren, und warum sollten sie eine Schrift nicht für apostolisch halten, die als
solche in Umlauf gesetzt wurde, und deren Inhalt keinen Anstoß gab!

Bald verband sich mit dem erbaulichen Moment ein kirchliches. In dem
Kampf gegen die ketzerischen Sekten, welche im zweiten Jahrhundert so mächtig
um sich griffen, zog man alles an sich heran, was zur Grundlage für die sich
bildende rechtgläubige Kirche dienen konnte, man sah sich nach Schriften um.
die sich zur Widerlegung der Ketzer eigneten, und man war im Voraus geneigt,
Schriften, die sich für apostolisch ausgaben, auch für solche zu halten, sobald sie
nur eine Beziehung zu den dogmatischen Interessen der Gegenwart hatten.

Man wendet nun freilich ein, es sei ganz undenkbar, daß neutestament-
liche Schriften untergeschoben wurden. Denn es sei weder anzunehmen, daß die
Verfasser derselben sich solche Täuschung zu Schulden kommen ließen, noch daß
sie damit in der Kirche Glauben gefunden hätten; ja das Christenthum würde
damit selbst zu einem Erzeugniß der Täuschung und des Betrugs. Letzteres ist
eine grelle Uebertreibung, eine offenbare Umdrehung des wirklichen Sachverhalts.
Das Christenthum war früher vorhanden, als die Schriften, welche dasselbe
im Lauf seiner Entwicklung erst aus sich heraus erzeugte, und seine Lebens¬
kraft' hängt sicherlich 'nicht davon ab, ob eine Schrift diesen oder jenen zum
Verfasser hat, oder ob sie ein paar Jahrzehnte früher oder später geschrieben ist.
Ueberdies ist eine Anzahl der neutestamentlichen Schriften von der Wissenschaft-


des als ein Wort des Herrn angeführt: „Tage werden kommen, da werden
Neben wachsen, jede mit 10,000 Schößlingen, und an jedem Schößling 10,000
Aeste, und an jedem Ast 10,000 Zweige, und an jedem Zweig 10,000 Trauben,
und an jeder Traube 10,000 Beeren, gleicherweise wird ein Weizenkorn 10.000
Aehren geben und jede Aehre 10.000 Körner, und jedes Korn 10 Pfund Weißes
reines Semmelmehl und die übrigen Früchte und Kräuter nach Verhältniß."
Irenäus glaubte an dieses durch den Apostel Johannes vermittelte Herrnwort,
enorm die Lehre vom tausendjährigen Reich in krassester Weise versinnbildlicht
ist — gewiß kein Beweis, daß er den eigenthümlich geistigen Gehalt des Jo-
hanncscvangcliums zu würdigen und überhaupt ein kritisches Urtheil abzugeben
befähigt war. Derselbe Tertullian, der ebenfalls für die Echtheit dieses Evan¬
geliums zeugt, glaubt zugleich fest an die Wahrheit der Legende, daß der
Apostel Johannes in brennendes Oel gestürzt wurde, unversehrt daraus hervor¬
ging und daraus nach der Insel Palaos verbannt wurde, und so ist keine Le¬
gende wunderhast und unglaublich genug, die bei diesen Bädern der Kirche
nicht willig Glauben fände. Alles darf man bei ihnen eher suchen, als kriti¬
schen Sinn und Sicherheit gegen Betrug und Täuschung. Ihr Interesse war
ein dem kritischen geradezu entgegengesetztes. Sie nahmen an, was ihnen er¬
baulich schien. Warum sollten sie die wunderhaften Legenden nicht glauben
und verbreiten, die ihnen eine Bestätigung der Wundernacht des Christenthums
waren, und warum sollten sie eine Schrift nicht für apostolisch halten, die als
solche in Umlauf gesetzt wurde, und deren Inhalt keinen Anstoß gab!

Bald verband sich mit dem erbaulichen Moment ein kirchliches. In dem
Kampf gegen die ketzerischen Sekten, welche im zweiten Jahrhundert so mächtig
um sich griffen, zog man alles an sich heran, was zur Grundlage für die sich
bildende rechtgläubige Kirche dienen konnte, man sah sich nach Schriften um.
die sich zur Widerlegung der Ketzer eigneten, und man war im Voraus geneigt,
Schriften, die sich für apostolisch ausgaben, auch für solche zu halten, sobald sie
nur eine Beziehung zu den dogmatischen Interessen der Gegenwart hatten.

Man wendet nun freilich ein, es sei ganz undenkbar, daß neutestament-
liche Schriften untergeschoben wurden. Denn es sei weder anzunehmen, daß die
Verfasser derselben sich solche Täuschung zu Schulden kommen ließen, noch daß
sie damit in der Kirche Glauben gefunden hätten; ja das Christenthum würde
damit selbst zu einem Erzeugniß der Täuschung und des Betrugs. Letzteres ist
eine grelle Uebertreibung, eine offenbare Umdrehung des wirklichen Sachverhalts.
Das Christenthum war früher vorhanden, als die Schriften, welche dasselbe
im Lauf seiner Entwicklung erst aus sich heraus erzeugte, und seine Lebens¬
kraft' hängt sicherlich 'nicht davon ab, ob eine Schrift diesen oder jenen zum
Verfasser hat, oder ob sie ein paar Jahrzehnte früher oder später geschrieben ist.
Ueberdies ist eine Anzahl der neutestamentlichen Schriften von der Wissenschaft-


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[0316] des als ein Wort des Herrn angeführt: „Tage werden kommen, da werden Neben wachsen, jede mit 10,000 Schößlingen, und an jedem Schößling 10,000 Aeste, und an jedem Ast 10,000 Zweige, und an jedem Zweig 10,000 Trauben, und an jeder Traube 10,000 Beeren, gleicherweise wird ein Weizenkorn 10.000 Aehren geben und jede Aehre 10.000 Körner, und jedes Korn 10 Pfund Weißes reines Semmelmehl und die übrigen Früchte und Kräuter nach Verhältniß." Irenäus glaubte an dieses durch den Apostel Johannes vermittelte Herrnwort, enorm die Lehre vom tausendjährigen Reich in krassester Weise versinnbildlicht ist — gewiß kein Beweis, daß er den eigenthümlich geistigen Gehalt des Jo- hanncscvangcliums zu würdigen und überhaupt ein kritisches Urtheil abzugeben befähigt war. Derselbe Tertullian, der ebenfalls für die Echtheit dieses Evan¬ geliums zeugt, glaubt zugleich fest an die Wahrheit der Legende, daß der Apostel Johannes in brennendes Oel gestürzt wurde, unversehrt daraus hervor¬ ging und daraus nach der Insel Palaos verbannt wurde, und so ist keine Le¬ gende wunderhast und unglaublich genug, die bei diesen Bädern der Kirche nicht willig Glauben fände. Alles darf man bei ihnen eher suchen, als kriti¬ schen Sinn und Sicherheit gegen Betrug und Täuschung. Ihr Interesse war ein dem kritischen geradezu entgegengesetztes. Sie nahmen an, was ihnen er¬ baulich schien. Warum sollten sie die wunderhaften Legenden nicht glauben und verbreiten, die ihnen eine Bestätigung der Wundernacht des Christenthums waren, und warum sollten sie eine Schrift nicht für apostolisch halten, die als solche in Umlauf gesetzt wurde, und deren Inhalt keinen Anstoß gab! Bald verband sich mit dem erbaulichen Moment ein kirchliches. In dem Kampf gegen die ketzerischen Sekten, welche im zweiten Jahrhundert so mächtig um sich griffen, zog man alles an sich heran, was zur Grundlage für die sich bildende rechtgläubige Kirche dienen konnte, man sah sich nach Schriften um. die sich zur Widerlegung der Ketzer eigneten, und man war im Voraus geneigt, Schriften, die sich für apostolisch ausgaben, auch für solche zu halten, sobald sie nur eine Beziehung zu den dogmatischen Interessen der Gegenwart hatten. Man wendet nun freilich ein, es sei ganz undenkbar, daß neutestament- liche Schriften untergeschoben wurden. Denn es sei weder anzunehmen, daß die Verfasser derselben sich solche Täuschung zu Schulden kommen ließen, noch daß sie damit in der Kirche Glauben gefunden hätten; ja das Christenthum würde damit selbst zu einem Erzeugniß der Täuschung und des Betrugs. Letzteres ist eine grelle Uebertreibung, eine offenbare Umdrehung des wirklichen Sachverhalts. Das Christenthum war früher vorhanden, als die Schriften, welche dasselbe im Lauf seiner Entwicklung erst aus sich heraus erzeugte, und seine Lebens¬ kraft' hängt sicherlich 'nicht davon ab, ob eine Schrift diesen oder jenen zum Verfasser hat, oder ob sie ein paar Jahrzehnte früher oder später geschrieben ist. Ueberdies ist eine Anzahl der neutestamentlichen Schriften von der Wissenschaft-

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 23, 1864, I. Semester. II. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341799_188560/316>, abgerufen am 23.07.2024.