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Die Grenzboten. Jg. 23, 1864, I. Semester. II. Band.

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als echt mitgetheilt werden. -- Der noch erhaltene Briefwechsel zwischen Jesus
und dem Fürsten Abgar von Edessa (worin sich Jesus auf Stellen des Jo-
hannesevangeliums als bereits geschrieben beruft!) wird ebenfalls von Eusebius
in gutem Glauben mitgetheilt. Die romanhaften Schriften, die man auf Cle¬
mens, den ersten Bischof von Rom zurückdatirte, wurden nicht blos Von Ori-
genes als echt benutzt, sondern gingen zum Theil über die ganze spätere Tra¬
dition, und bilden sogar, was die fabelhafte Geschichte des Petrus und die
Ausbildung der Hierarchie betrifft, eine wesentliche Grundlage der römischen
Kirche.

Noch fehlt uns eine umfassende Schilderung jenes phantastisch aufgeregten,
allem Wunderbaren im Voraus geneigten Zeitalters. Die ungewöhnlichen
Weltverhältnisse, die Berührungen des Morgenlands und Abendlands, die
Vermischung der Religionen, die Flucht aus den abgestorbenen Formen der
alten Welt in die Ahnung, eines Neuen, Besseren erzeugten eine Fülle von
abenteuerlichen Erscheinungen: es war die Zeit der falschen Propheten, der
Wunderthäter, der Magier und Zauberer. Das Christenthum mitten in diesen
Zersetzungsproceß der alten Welt hineingestellt, hervorkeimend aus den Ruinen
der inhaltlos gewordenen Bildungen, folgte in der Richtung auf das Wunder¬
bare durchaus diesem Zug der Zeit. Niemals hat die Sage üppiger gewundert,
als in der ältesten Periode des Christenthums. Die ganze Literatur ist voll
von Legenden und Fabeln. Ueberall Märtyrerwunber, Visionen, Krankenhci-
lungen, Todtcnerweckungen, eingetroffene Weissagungen. Und diejenigen Schrift¬
steller . welche allen diesen Legenden den naivsten Glauben entgegentragen,
sind dieselben, auf deren Zeugnissen die Echtheit der neutestamentlichen Schrif¬
ten beruht. Wird man uns zumuthen. dieselben Väter, die den krassesten Aber¬
glauben ihrer Zeit theilen und verbreiten, doch in dieser einen Beziehung als
kritische Autoritäten zu verehren?

Derselbe Irenäus. der unsere vier kanonischen Evangelien bezeugt, belehrt
uns auch über den Grund, warum es gerade vier Evangelien geben müsse:
die Kirche ist in der ganzen Welt verbreitet, die Welt hat vier Weltgegenden
-- also ist es schicklich, daß es auch vier Evangelien giebt. Das Evangelium
ist der Lebenswind für die Menschen, nun giebt es aus Erden vier Hauptwinde
-- also auch vier Evangelien. Das Wort Gottes thront auf Cherubim, die
Cherubim haben vier Gestalten, also hat uns das Wort Gottes auch ein viel¬
gestaltiges Evangelium gegeben. Natürlich wäre dieser Kirchenvater, wenn zu
seiner Zeit die Tradition aus dem vorhandenen Reichthum von Evangelien sich
für eine Drei- oder Fünf- oder Sieben-Zahl von Evangelien entschieden hätte,
gleichfalls um Gründe von derselben Beweiskraft nicht verlegen gewesen. Der¬
selbe Irenäus, der uns die Echtheit des Johannesevangeliums bezeugt, erzählt
als mündliche kleinasiatische Ueberlieferung, der Apostel Johannes habe Folgen-
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als echt mitgetheilt werden. — Der noch erhaltene Briefwechsel zwischen Jesus
und dem Fürsten Abgar von Edessa (worin sich Jesus auf Stellen des Jo-
hannesevangeliums als bereits geschrieben beruft!) wird ebenfalls von Eusebius
in gutem Glauben mitgetheilt. Die romanhaften Schriften, die man auf Cle¬
mens, den ersten Bischof von Rom zurückdatirte, wurden nicht blos Von Ori-
genes als echt benutzt, sondern gingen zum Theil über die ganze spätere Tra¬
dition, und bilden sogar, was die fabelhafte Geschichte des Petrus und die
Ausbildung der Hierarchie betrifft, eine wesentliche Grundlage der römischen
Kirche.

Noch fehlt uns eine umfassende Schilderung jenes phantastisch aufgeregten,
allem Wunderbaren im Voraus geneigten Zeitalters. Die ungewöhnlichen
Weltverhältnisse, die Berührungen des Morgenlands und Abendlands, die
Vermischung der Religionen, die Flucht aus den abgestorbenen Formen der
alten Welt in die Ahnung, eines Neuen, Besseren erzeugten eine Fülle von
abenteuerlichen Erscheinungen: es war die Zeit der falschen Propheten, der
Wunderthäter, der Magier und Zauberer. Das Christenthum mitten in diesen
Zersetzungsproceß der alten Welt hineingestellt, hervorkeimend aus den Ruinen
der inhaltlos gewordenen Bildungen, folgte in der Richtung auf das Wunder¬
bare durchaus diesem Zug der Zeit. Niemals hat die Sage üppiger gewundert,
als in der ältesten Periode des Christenthums. Die ganze Literatur ist voll
von Legenden und Fabeln. Ueberall Märtyrerwunber, Visionen, Krankenhci-
lungen, Todtcnerweckungen, eingetroffene Weissagungen. Und diejenigen Schrift¬
steller . welche allen diesen Legenden den naivsten Glauben entgegentragen,
sind dieselben, auf deren Zeugnissen die Echtheit der neutestamentlichen Schrif¬
ten beruht. Wird man uns zumuthen. dieselben Väter, die den krassesten Aber¬
glauben ihrer Zeit theilen und verbreiten, doch in dieser einen Beziehung als
kritische Autoritäten zu verehren?

Derselbe Irenäus. der unsere vier kanonischen Evangelien bezeugt, belehrt
uns auch über den Grund, warum es gerade vier Evangelien geben müsse:
die Kirche ist in der ganzen Welt verbreitet, die Welt hat vier Weltgegenden
— also ist es schicklich, daß es auch vier Evangelien giebt. Das Evangelium
ist der Lebenswind für die Menschen, nun giebt es aus Erden vier Hauptwinde
— also auch vier Evangelien. Das Wort Gottes thront auf Cherubim, die
Cherubim haben vier Gestalten, also hat uns das Wort Gottes auch ein viel¬
gestaltiges Evangelium gegeben. Natürlich wäre dieser Kirchenvater, wenn zu
seiner Zeit die Tradition aus dem vorhandenen Reichthum von Evangelien sich
für eine Drei- oder Fünf- oder Sieben-Zahl von Evangelien entschieden hätte,
gleichfalls um Gründe von derselben Beweiskraft nicht verlegen gewesen. Der¬
selbe Irenäus, der uns die Echtheit des Johannesevangeliums bezeugt, erzählt
als mündliche kleinasiatische Ueberlieferung, der Apostel Johannes habe Folgen-
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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 23, 1864, I. Semester. II. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341799_188560/315>, abgerufen am 23.07.2024.