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Die Grenzboten. Jg. 23, 1864, I. Semester. II. Band.

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Zwar wurde ihre Unechtheit sofort von Milton dargethan, aber noch nach fünfzig
Jahren nahm man es dem Deisten Toland übel, daß er die Echtheit der Schrift
bestritt. Toland zog auch von dieser Unterschiebung bereits die Anwendung auf
die urchristliche Literatur. "Wenn ich ernstlich erwäge," sagt er, "wie alles
dies in unserer Mitte sich zugetragen hat, binnen vierzig Jahren, in einer Zeit
großer Gelehrsamkeit und Bildung, wo beide Parteien so genau über ihre gegen¬
seitigen Handlungen wachten, , so kann ich mich nicht länger wundern, wie so
viele untergeschobene Schriften unter dem Namen Christi, seiner Apostel und
anderer großen Personen haben veröffentlicht werden können in den christlichen
Urzeiten, wo es von so großer Bedeutung war, daß dieselben Glauben fanden,
wo die Betrügereien auf allen Seiten so häusig waren und zugleich der Verkehr
noch bei weitem nicht so allgemein war wie jetzt." Andere Beispiele liegen
unserer Zelt noch näher. Ein bekanntes Lied von Goethe (wie Feld und An)
hat sich in die Gedichtsammlung von I. G. Jacobi eingeschlichen. Fichtes
Kritik aller Offenbarung wurde in ihrer ersten anonymen Ausgabe allgemein
Kant zugeschrieben. In die Sammlung der hegelschen Werke ist eine Abhand¬
lung von Schelling und eine von F. v. Meyer gekommen. Neuerdings noch
haben die MÄtinecis i-vz^Ich Friedrichs des Großen zahlreiche Federn in Be¬
wegung gesetzt. Oder ist es nöthig noch an die ossianischcn Gesänge, an den
Briefwechsel Goethes mit einem Kinde, an die Bernsteinhexe zu erinnern?

In unserem Zeitalter der literarischen Oeffentlichkeit und des literarischen
Interesses wird nun freilich selten ein Betrug oder Irrthum lange unentdeckt
bleiben können. Anders im Alterthum. Dort fehlte es durchaus an den uns
jetzt zu Gebot stehenden Hilfsmitteln, um literarische Streitigkeiten zu entscheiden,
selbst wenn dieselben aufgeworfen wurden. Aber auch dies war höchst selten
der Fall. Dem Alterthum mangelte der Geist der Kritik, das rein historische
Interesse. Selbst in der hellsten Zeit des classischen Alterthums waren Unter¬
schiebungen möglich, die uns heute unglaublich scheinen, und je näher wir
dann der christlichen Welt kommen, um so mehr wird eS geradezu Mode, be¬
rühmten Namen der Vorzeit neueste Erzeugnisse anzudichten, eben erst entstandene
Schriften unter der Autorität eines Platon, eines Pythagoras, eines Orpheus
in die Welt zu schicken. Es lag diese Tendenz in der ganzen Zeit. Niemand
findet etwas Arges daran, niemand erhebt Widerspruch oder äußert Zweifel,
jeder meme vielmehr auf Treu und Glauben hin, was ihm, unter welchem
Titel immer, entgegengebracht wird. Juden und Heiden wetteifern in solchen
Unterschiebungen, und die ältesten Väter der christlichen Kirche stützen sich nicht
nur auf, dieselben, wo es in ihrem Sinne liegt, sondern sie setzen das Geschäft
fort, in ihrem Interesse, für ihre Zwecke.

Im zweiten Jahrhundert vor Christus stellte ein alexandrinischer Jude,
Namens Aristobul, um das Judenthum durch die Heidenwelt bezeugt sein zu


Grenzboten II. 1864. 39

Zwar wurde ihre Unechtheit sofort von Milton dargethan, aber noch nach fünfzig
Jahren nahm man es dem Deisten Toland übel, daß er die Echtheit der Schrift
bestritt. Toland zog auch von dieser Unterschiebung bereits die Anwendung auf
die urchristliche Literatur. „Wenn ich ernstlich erwäge," sagt er, „wie alles
dies in unserer Mitte sich zugetragen hat, binnen vierzig Jahren, in einer Zeit
großer Gelehrsamkeit und Bildung, wo beide Parteien so genau über ihre gegen¬
seitigen Handlungen wachten, , so kann ich mich nicht länger wundern, wie so
viele untergeschobene Schriften unter dem Namen Christi, seiner Apostel und
anderer großen Personen haben veröffentlicht werden können in den christlichen
Urzeiten, wo es von so großer Bedeutung war, daß dieselben Glauben fanden,
wo die Betrügereien auf allen Seiten so häusig waren und zugleich der Verkehr
noch bei weitem nicht so allgemein war wie jetzt." Andere Beispiele liegen
unserer Zelt noch näher. Ein bekanntes Lied von Goethe (wie Feld und An)
hat sich in die Gedichtsammlung von I. G. Jacobi eingeschlichen. Fichtes
Kritik aller Offenbarung wurde in ihrer ersten anonymen Ausgabe allgemein
Kant zugeschrieben. In die Sammlung der hegelschen Werke ist eine Abhand¬
lung von Schelling und eine von F. v. Meyer gekommen. Neuerdings noch
haben die MÄtinecis i-vz^Ich Friedrichs des Großen zahlreiche Federn in Be¬
wegung gesetzt. Oder ist es nöthig noch an die ossianischcn Gesänge, an den
Briefwechsel Goethes mit einem Kinde, an die Bernsteinhexe zu erinnern?

In unserem Zeitalter der literarischen Oeffentlichkeit und des literarischen
Interesses wird nun freilich selten ein Betrug oder Irrthum lange unentdeckt
bleiben können. Anders im Alterthum. Dort fehlte es durchaus an den uns
jetzt zu Gebot stehenden Hilfsmitteln, um literarische Streitigkeiten zu entscheiden,
selbst wenn dieselben aufgeworfen wurden. Aber auch dies war höchst selten
der Fall. Dem Alterthum mangelte der Geist der Kritik, das rein historische
Interesse. Selbst in der hellsten Zeit des classischen Alterthums waren Unter¬
schiebungen möglich, die uns heute unglaublich scheinen, und je näher wir
dann der christlichen Welt kommen, um so mehr wird eS geradezu Mode, be¬
rühmten Namen der Vorzeit neueste Erzeugnisse anzudichten, eben erst entstandene
Schriften unter der Autorität eines Platon, eines Pythagoras, eines Orpheus
in die Welt zu schicken. Es lag diese Tendenz in der ganzen Zeit. Niemand
findet etwas Arges daran, niemand erhebt Widerspruch oder äußert Zweifel,
jeder meme vielmehr auf Treu und Glauben hin, was ihm, unter welchem
Titel immer, entgegengebracht wird. Juden und Heiden wetteifern in solchen
Unterschiebungen, und die ältesten Väter der christlichen Kirche stützen sich nicht
nur auf, dieselben, wo es in ihrem Sinne liegt, sondern sie setzen das Geschäft
fort, in ihrem Interesse, für ihre Zwecke.

Im zweiten Jahrhundert vor Christus stellte ein alexandrinischer Jude,
Namens Aristobul, um das Judenthum durch die Heidenwelt bezeugt sein zu


Grenzboten II. 1864. 39
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[0313] Zwar wurde ihre Unechtheit sofort von Milton dargethan, aber noch nach fünfzig Jahren nahm man es dem Deisten Toland übel, daß er die Echtheit der Schrift bestritt. Toland zog auch von dieser Unterschiebung bereits die Anwendung auf die urchristliche Literatur. „Wenn ich ernstlich erwäge," sagt er, „wie alles dies in unserer Mitte sich zugetragen hat, binnen vierzig Jahren, in einer Zeit großer Gelehrsamkeit und Bildung, wo beide Parteien so genau über ihre gegen¬ seitigen Handlungen wachten, , so kann ich mich nicht länger wundern, wie so viele untergeschobene Schriften unter dem Namen Christi, seiner Apostel und anderer großen Personen haben veröffentlicht werden können in den christlichen Urzeiten, wo es von so großer Bedeutung war, daß dieselben Glauben fanden, wo die Betrügereien auf allen Seiten so häusig waren und zugleich der Verkehr noch bei weitem nicht so allgemein war wie jetzt." Andere Beispiele liegen unserer Zelt noch näher. Ein bekanntes Lied von Goethe (wie Feld und An) hat sich in die Gedichtsammlung von I. G. Jacobi eingeschlichen. Fichtes Kritik aller Offenbarung wurde in ihrer ersten anonymen Ausgabe allgemein Kant zugeschrieben. In die Sammlung der hegelschen Werke ist eine Abhand¬ lung von Schelling und eine von F. v. Meyer gekommen. Neuerdings noch haben die MÄtinecis i-vz^Ich Friedrichs des Großen zahlreiche Federn in Be¬ wegung gesetzt. Oder ist es nöthig noch an die ossianischcn Gesänge, an den Briefwechsel Goethes mit einem Kinde, an die Bernsteinhexe zu erinnern? In unserem Zeitalter der literarischen Oeffentlichkeit und des literarischen Interesses wird nun freilich selten ein Betrug oder Irrthum lange unentdeckt bleiben können. Anders im Alterthum. Dort fehlte es durchaus an den uns jetzt zu Gebot stehenden Hilfsmitteln, um literarische Streitigkeiten zu entscheiden, selbst wenn dieselben aufgeworfen wurden. Aber auch dies war höchst selten der Fall. Dem Alterthum mangelte der Geist der Kritik, das rein historische Interesse. Selbst in der hellsten Zeit des classischen Alterthums waren Unter¬ schiebungen möglich, die uns heute unglaublich scheinen, und je näher wir dann der christlichen Welt kommen, um so mehr wird eS geradezu Mode, be¬ rühmten Namen der Vorzeit neueste Erzeugnisse anzudichten, eben erst entstandene Schriften unter der Autorität eines Platon, eines Pythagoras, eines Orpheus in die Welt zu schicken. Es lag diese Tendenz in der ganzen Zeit. Niemand findet etwas Arges daran, niemand erhebt Widerspruch oder äußert Zweifel, jeder meme vielmehr auf Treu und Glauben hin, was ihm, unter welchem Titel immer, entgegengebracht wird. Juden und Heiden wetteifern in solchen Unterschiebungen, und die ältesten Väter der christlichen Kirche stützen sich nicht nur auf, dieselben, wo es in ihrem Sinne liegt, sondern sie setzen das Geschäft fort, in ihrem Interesse, für ihre Zwecke. Im zweiten Jahrhundert vor Christus stellte ein alexandrinischer Jude, Namens Aristobul, um das Judenthum durch die Heidenwelt bezeugt sein zu Grenzboten II. 1864. 39

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 23, 1864, I. Semester. II. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341799_188560/313>, abgerufen am 23.07.2024.