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Die Grenzboten. Jg. 23, 1864, I. Semester. II. Band.

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worden waren, jetzt jenem unabsehbare" Feld von untergeordneten Punkten sich
zuwandte, stand sie allerdings in Gefahr, sich in ein nutzloses Detail zu ver¬
graben und dafür die Hauptsache, nämlich die Beziehung der Evangelienkritik
auf den Anfangspunkt des Christenthums aus den klugen zu verlieren. War
die Evangelienkritik in den letzten zwanzig Jahren "unläugbar etwas ins Kraut
geschossen", so kam es darauf an, sie einer vorurtheilslosen Revision zu unter¬
werfen, und ihre Ergebnisse darauf anzusehen, welchen Gewinn denn die auf¬
gehäufte Gelehrsamkeit der Kenntniß der Person und Schicksale, der Lehre und
Zwecke Jesu zuführen. Eben dies ist nun das Verdienst, weiches sich Strauß
in seinem neuen Leben Jesu erworben hat, indem er dem geschichtlich aufbauenden
Werte eine Einleitung vorausschickt, worin er sich mit den seit seinem ersten
Leben Jesu ans Licht getretenen Forschungen auseinandersetzt. Kein anderer
war so befähigt, die Betheiligten an das zu errinnern, um was es sich eigentlich
handelt, sie "aus dem Umkreis in den Mittelpunkt zurückzurufen", als eben
Strauß, der an den Arbeiten der tüvinger Schule nicht selbst Theil genommen
hat, aber ihnen Schrill für Schritt aufs sorgfältigste gefolgt ist, der ebenso
von den andern neidlos zu lernen als selbständig weiter zu suchen beflissen
war, dessen sicherer verständiger Tact ebenso alles Uebertreibende und Kleinliche
auszuscheiden, als das, was probehaltig erfunden wurde, auf die Hauptsache
zurückzübeziehen verstand. Und nun ist es keine geringe Genugthuung, daß
durch die sorgsam abwägende Methode von Strauß die Resultate der baurschen
Evangelienkritik im Wesentlichen bestätigt werden, allerdings unter jenen Mo-
dificationen, die namentlich Kostim anbahnte, und Strauß noch weiter begründet.
Das Tendenzmäßige ist überall gemildert, der freien schriftstellerischen Composition
ein größerer Spielraum gelassen, allen Evangelien ein verhältnißmäßiger An¬
spruch auf Geschichtlichkeit zuerkannt. Aber nicht nur eignet sich Strauß die
baurscbe Kritik des Jvhannesevangcliums vollständig an, sondern auch bezüglich
des Verhältnisses der Synoptiker tritt er auf Baurs Seite, indem er das
Matthäusevangclium als das ursprünglichste, das Marcuscvangelium als das
späteste betrachtet. Strauß hat -- alles Excentrische, alles was bloße Ver¬
muthung ist, bei Seite lassend -- die einfachen großen Grundzüge der Evan¬
gelienkritik wiederhergestellt. Und es that Noth, daß der gelehrte Wald gelichtet
und wieder eine Aussicht ins Freie gewonnen wurde. Denn nur so auf das
Nothwendige und annähernd sicher Festgestellte beschränkt, sind die Ergebnisse
der neueren Kritik fähig, als dauerhafte Grundlagen der Geschichtschreibung
zu dienen; so allein sind sie auch fähig, zum Gemeingut der Gebildeten und
Denkenden zu werden, die sich über die Anfänge des Christenthums ein eigenes
Urtheil bilden wollen.

Wir versuchen es in einer Reihe weiterer Ausführungen, das, was die
neuere Wissenschaft über die Entstehung unsres Kanon, über die Bildung


worden waren, jetzt jenem unabsehbare» Feld von untergeordneten Punkten sich
zuwandte, stand sie allerdings in Gefahr, sich in ein nutzloses Detail zu ver¬
graben und dafür die Hauptsache, nämlich die Beziehung der Evangelienkritik
auf den Anfangspunkt des Christenthums aus den klugen zu verlieren. War
die Evangelienkritik in den letzten zwanzig Jahren „unläugbar etwas ins Kraut
geschossen", so kam es darauf an, sie einer vorurtheilslosen Revision zu unter¬
werfen, und ihre Ergebnisse darauf anzusehen, welchen Gewinn denn die auf¬
gehäufte Gelehrsamkeit der Kenntniß der Person und Schicksale, der Lehre und
Zwecke Jesu zuführen. Eben dies ist nun das Verdienst, weiches sich Strauß
in seinem neuen Leben Jesu erworben hat, indem er dem geschichtlich aufbauenden
Werte eine Einleitung vorausschickt, worin er sich mit den seit seinem ersten
Leben Jesu ans Licht getretenen Forschungen auseinandersetzt. Kein anderer
war so befähigt, die Betheiligten an das zu errinnern, um was es sich eigentlich
handelt, sie „aus dem Umkreis in den Mittelpunkt zurückzurufen", als eben
Strauß, der an den Arbeiten der tüvinger Schule nicht selbst Theil genommen
hat, aber ihnen Schrill für Schritt aufs sorgfältigste gefolgt ist, der ebenso
von den andern neidlos zu lernen als selbständig weiter zu suchen beflissen
war, dessen sicherer verständiger Tact ebenso alles Uebertreibende und Kleinliche
auszuscheiden, als das, was probehaltig erfunden wurde, auf die Hauptsache
zurückzübeziehen verstand. Und nun ist es keine geringe Genugthuung, daß
durch die sorgsam abwägende Methode von Strauß die Resultate der baurschen
Evangelienkritik im Wesentlichen bestätigt werden, allerdings unter jenen Mo-
dificationen, die namentlich Kostim anbahnte, und Strauß noch weiter begründet.
Das Tendenzmäßige ist überall gemildert, der freien schriftstellerischen Composition
ein größerer Spielraum gelassen, allen Evangelien ein verhältnißmäßiger An¬
spruch auf Geschichtlichkeit zuerkannt. Aber nicht nur eignet sich Strauß die
baurscbe Kritik des Jvhannesevangcliums vollständig an, sondern auch bezüglich
des Verhältnisses der Synoptiker tritt er auf Baurs Seite, indem er das
Matthäusevangclium als das ursprünglichste, das Marcuscvangelium als das
späteste betrachtet. Strauß hat — alles Excentrische, alles was bloße Ver¬
muthung ist, bei Seite lassend — die einfachen großen Grundzüge der Evan¬
gelienkritik wiederhergestellt. Und es that Noth, daß der gelehrte Wald gelichtet
und wieder eine Aussicht ins Freie gewonnen wurde. Denn nur so auf das
Nothwendige und annähernd sicher Festgestellte beschränkt, sind die Ergebnisse
der neueren Kritik fähig, als dauerhafte Grundlagen der Geschichtschreibung
zu dienen; so allein sind sie auch fähig, zum Gemeingut der Gebildeten und
Denkenden zu werden, die sich über die Anfänge des Christenthums ein eigenes
Urtheil bilden wollen.

Wir versuchen es in einer Reihe weiterer Ausführungen, das, was die
neuere Wissenschaft über die Entstehung unsres Kanon, über die Bildung


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[0236] worden waren, jetzt jenem unabsehbare» Feld von untergeordneten Punkten sich zuwandte, stand sie allerdings in Gefahr, sich in ein nutzloses Detail zu ver¬ graben und dafür die Hauptsache, nämlich die Beziehung der Evangelienkritik auf den Anfangspunkt des Christenthums aus den klugen zu verlieren. War die Evangelienkritik in den letzten zwanzig Jahren „unläugbar etwas ins Kraut geschossen", so kam es darauf an, sie einer vorurtheilslosen Revision zu unter¬ werfen, und ihre Ergebnisse darauf anzusehen, welchen Gewinn denn die auf¬ gehäufte Gelehrsamkeit der Kenntniß der Person und Schicksale, der Lehre und Zwecke Jesu zuführen. Eben dies ist nun das Verdienst, weiches sich Strauß in seinem neuen Leben Jesu erworben hat, indem er dem geschichtlich aufbauenden Werte eine Einleitung vorausschickt, worin er sich mit den seit seinem ersten Leben Jesu ans Licht getretenen Forschungen auseinandersetzt. Kein anderer war so befähigt, die Betheiligten an das zu errinnern, um was es sich eigentlich handelt, sie „aus dem Umkreis in den Mittelpunkt zurückzurufen", als eben Strauß, der an den Arbeiten der tüvinger Schule nicht selbst Theil genommen hat, aber ihnen Schrill für Schritt aufs sorgfältigste gefolgt ist, der ebenso von den andern neidlos zu lernen als selbständig weiter zu suchen beflissen war, dessen sicherer verständiger Tact ebenso alles Uebertreibende und Kleinliche auszuscheiden, als das, was probehaltig erfunden wurde, auf die Hauptsache zurückzübeziehen verstand. Und nun ist es keine geringe Genugthuung, daß durch die sorgsam abwägende Methode von Strauß die Resultate der baurschen Evangelienkritik im Wesentlichen bestätigt werden, allerdings unter jenen Mo- dificationen, die namentlich Kostim anbahnte, und Strauß noch weiter begründet. Das Tendenzmäßige ist überall gemildert, der freien schriftstellerischen Composition ein größerer Spielraum gelassen, allen Evangelien ein verhältnißmäßiger An¬ spruch auf Geschichtlichkeit zuerkannt. Aber nicht nur eignet sich Strauß die baurscbe Kritik des Jvhannesevangcliums vollständig an, sondern auch bezüglich des Verhältnisses der Synoptiker tritt er auf Baurs Seite, indem er das Matthäusevangclium als das ursprünglichste, das Marcuscvangelium als das späteste betrachtet. Strauß hat — alles Excentrische, alles was bloße Ver¬ muthung ist, bei Seite lassend — die einfachen großen Grundzüge der Evan¬ gelienkritik wiederhergestellt. Und es that Noth, daß der gelehrte Wald gelichtet und wieder eine Aussicht ins Freie gewonnen wurde. Denn nur so auf das Nothwendige und annähernd sicher Festgestellte beschränkt, sind die Ergebnisse der neueren Kritik fähig, als dauerhafte Grundlagen der Geschichtschreibung zu dienen; so allein sind sie auch fähig, zum Gemeingut der Gebildeten und Denkenden zu werden, die sich über die Anfänge des Christenthums ein eigenes Urtheil bilden wollen. Wir versuchen es in einer Reihe weiterer Ausführungen, das, was die neuere Wissenschaft über die Entstehung unsres Kanon, über die Bildung

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 23, 1864, I. Semester. II. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341799_188560/236>, abgerufen am 23.07.2024.