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Die Grenzboten. Jg. 23, 1864, I. Semester. II. Band.

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nickt dem Vorwurf entgehen, den Stifter der tübinger Schule noch überboten
zu haben, indem er nämlich das vierte Evangelium als cur Erzeugnis; der
gnostischen Speculation auffaßte und nachwies, wie erst durch das Einmünden
der gnostischen Richtung in die judcnchristliche und paulinische Entwickelung die
katholische Einigung zu Stande gekommen sei.

Ein besonders lebhafter Streit entbrannte in diesem letzten Stadium der
Evangelienkritik innerhalb der Schule über die Stellung des Marcusevangeliums.
Baur hatte es um seines neutralen ausgleichenden Charakters willen als das
letzte der drei synoptischen Evangelien nachgewiesen. Kostim stimmte bei, nahm
aber zugleich el" älteres Marcuscvangelium an, das die Grundlage aller Evange-
lienschriftcn gewesen sei. Hilgenfeld setzte es zwischen Matthäus und Lucas.
rechtfertigte also die Stellung, die es in unserem Kanon einnimmt. Dagegen griff
nun Vvlckmar (wie auch Ritschl und neuestens Schenkel) auf die wilckesche
Hypothese des Marcus als Urevangelisten zurück und suchte diese Ansicht mit
großem Aufwand von Scharfsinn, gleichwohl auf wenig überzeugende Weise neu
zu begründen. Das Marcuscvangelium ist nach dieser Kritik, welche sich selt¬
samerweise als die "absolute, völlig positive und damit ebenso kirchengemäße"
nennt, ein christliches Tcndenzepos, von einem Pauliner im Gegensatz zur juden-
chnstlichen Offenbarung verfaßt, und in gleicher Weise sind auch die anderen
Evangelien reine Tcndcnzschriftcn, welche durch die weiteren Parteikämpfe und
Streitigkeiten der Gemeinde veranlaßt find. Hier ist also alles Absicht und
Berechnung. Nicht einmal die Neben Jesu werden als ursprünglich anerkannt
und das sonst für das älteste geltende Matthäusevangelium zu dem Wert eines
aufgeklärten Judenchristen aus der trajanischcu Zeit, zu einer Combination ans
Marcus und Lucas in der Art einer Evangelier.harmonie gemacht.

Diese Debatten über die gegenseitige Stellung der drei ersten Evangelien
welchen andere gleichfalls minutiös sich verzweigende Forschungen zur Seite
gingen, bezeichneten unstreitig eine gewisse Erschöpfung. Nicht als ob die von
Baur begründete Geschichtsauffassung nun durch deu Zwiespalt der über einzelne
Fragen zwischen den Schülern entstand, zur Erklärung der urchristlicher Ent¬
wicklung sich unfähig erwiesen, durch die eigenen Widersprüche sich selbst auf¬
gehoben hätte. Der Grund ist Vielmehr der, daß die Hauptresultate im Großes
und Ganzen jetzt feststanden, und die erneuerte Durchforschung immer wieder
nur auf die alten Gründe zurückkommen mußte, während dann -- gleichsam
in der Peripherie -- allerdings eine Menge kleinerer Fragen offen blieb, über
Welche nack, der Beschaffenheit der Quellen der Streit endlos fortdauern konnte
und immer wieder neue Combinationen empvrtricb. Indem die Forsibuug mit
demselben Eifer, mit welchem früher jene grundlegenden Fragen, das Verhältniß
der Apostelgeschichte zu den paulinischen Briefen, und das Verhältniß des vierten
Evangelium zu der Offenbarung einerseits, zu den Synoptikern andererseits erörtert


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nickt dem Vorwurf entgehen, den Stifter der tübinger Schule noch überboten
zu haben, indem er nämlich das vierte Evangelium als cur Erzeugnis; der
gnostischen Speculation auffaßte und nachwies, wie erst durch das Einmünden
der gnostischen Richtung in die judcnchristliche und paulinische Entwickelung die
katholische Einigung zu Stande gekommen sei.

Ein besonders lebhafter Streit entbrannte in diesem letzten Stadium der
Evangelienkritik innerhalb der Schule über die Stellung des Marcusevangeliums.
Baur hatte es um seines neutralen ausgleichenden Charakters willen als das
letzte der drei synoptischen Evangelien nachgewiesen. Kostim stimmte bei, nahm
aber zugleich el» älteres Marcuscvangelium an, das die Grundlage aller Evange-
lienschriftcn gewesen sei. Hilgenfeld setzte es zwischen Matthäus und Lucas.
rechtfertigte also die Stellung, die es in unserem Kanon einnimmt. Dagegen griff
nun Vvlckmar (wie auch Ritschl und neuestens Schenkel) auf die wilckesche
Hypothese des Marcus als Urevangelisten zurück und suchte diese Ansicht mit
großem Aufwand von Scharfsinn, gleichwohl auf wenig überzeugende Weise neu
zu begründen. Das Marcuscvangelium ist nach dieser Kritik, welche sich selt¬
samerweise als die „absolute, völlig positive und damit ebenso kirchengemäße"
nennt, ein christliches Tcndenzepos, von einem Pauliner im Gegensatz zur juden-
chnstlichen Offenbarung verfaßt, und in gleicher Weise sind auch die anderen
Evangelien reine Tcndcnzschriftcn, welche durch die weiteren Parteikämpfe und
Streitigkeiten der Gemeinde veranlaßt find. Hier ist also alles Absicht und
Berechnung. Nicht einmal die Neben Jesu werden als ursprünglich anerkannt
und das sonst für das älteste geltende Matthäusevangelium zu dem Wert eines
aufgeklärten Judenchristen aus der trajanischcu Zeit, zu einer Combination ans
Marcus und Lucas in der Art einer Evangelier.harmonie gemacht.

Diese Debatten über die gegenseitige Stellung der drei ersten Evangelien
welchen andere gleichfalls minutiös sich verzweigende Forschungen zur Seite
gingen, bezeichneten unstreitig eine gewisse Erschöpfung. Nicht als ob die von
Baur begründete Geschichtsauffassung nun durch deu Zwiespalt der über einzelne
Fragen zwischen den Schülern entstand, zur Erklärung der urchristlicher Ent¬
wicklung sich unfähig erwiesen, durch die eigenen Widersprüche sich selbst auf¬
gehoben hätte. Der Grund ist Vielmehr der, daß die Hauptresultate im Großes
und Ganzen jetzt feststanden, und die erneuerte Durchforschung immer wieder
nur auf die alten Gründe zurückkommen mußte, während dann — gleichsam
in der Peripherie — allerdings eine Menge kleinerer Fragen offen blieb, über
Welche nack, der Beschaffenheit der Quellen der Streit endlos fortdauern konnte
und immer wieder neue Combinationen empvrtricb. Indem die Forsibuug mit
demselben Eifer, mit welchem früher jene grundlegenden Fragen, das Verhältniß
der Apostelgeschichte zu den paulinischen Briefen, und das Verhältniß des vierten
Evangelium zu der Offenbarung einerseits, zu den Synoptikern andererseits erörtert


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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 23, 1864, I. Semester. II. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341799_188560/235>, abgerufen am 23.07.2024.