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Die Grenzboten. Jg. 23, 1864, I. Semester. II. Band.

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wissenschaftlichen Ernst ging bei ihm ein durchdringender Scharfsinn, eine Leich¬
tigkeit der Combinationsgabe und Darstellung Hand in Hand, welche es tief
bedauern lassen, das; er durch äußeren Druck diesen Studien entfremdet andern
Forschungen zugetrieben wurde, welche seine ungewöhnliche Arbeitskraft allzufrüh
aufrieben. Er zuerst faßte die bisherigen Einzeluntersuchungen als ein Ganzes
zusammen. Eine geschichtliche Darstellung, sagt er, findet nur in dem organi¬
schen Zusammenhang, in welchen sie das Einzelne mit dem Ganzen zu sehen
weiß, ihre genügende Bewährung. Das Einzelne an und für sich bleibt immer
schwankend und streitig: nur in seiner Verbindung zu einem größeren Ganzen,
dessen Glieder sich gegenseitig Heden und tragen, gewinnt es festeren Halt und
sicheren Boden. Schwegler ging aus von der Wahrnehmung, daß der Gegen
sah des Judenchristenthums und des .Paulinismus nicht blos das apostolische
Zeitalter im engeren Sinn, sondern den ganzen Zeitraum der werdenden katho-
lischen Kirche bis zum Schluß des zweiten Jahrhunderts beherrschte. Folglich
-- dies ist die nächste Schlußfolgerung -- sind die Schriften des neuen Testa¬
ments, welche die Verschiedenen aufeinanderfolgenden Stadien dieser Entwicke¬
lungsgeschichte bezeichnen, nicht in die drei Jahrzehnte des apostolischen Zeit¬
altern zusammenzuwerfen, sondern über die ganze nachapostolische Periode als
fortlaufende Kette von Documenten auszubreiten. Das ursprüngliche Christen¬
thum war wesentlich Jndenchristenthnm oder EdivnitiSmus, und die Geschichte
der ersten zwei Jahrhunderte ist nichts als die allmälige Entwickelung des
Ebionitismus zum Katholicismus. Das treibende Moment dieses Processes
aber ist der Pauliuiömus, unter dessen sollicitirender Einwirkung das Jnden¬
christenthnm i" einer Neilw von Entwickelungsstufen zum Katholicismus wurde,
und zwar so, daß die ersten Vermittclungsvorschläge vom Panlinismus, als
der illegitimen Partei, die sich erst mit Mühe Anerkennung zu erringen hatte,
ausgingen. Bon diesem obersten Gesichtspunkt aus werde" nun die kanonischen
und die außerkanonischen Schriften eingereiht in den Entwickelungsgang der
werdenden Kirche, nud zwar verläuft zunächst daS Jndenchristenthnm selbst in
einer dreifachen Abstufung vom reinen Jildenchristcnthnm durch verschiedene
Bermittelungöanbahnungcn zur Neutralität und zum Friedensschluß. Parallel
mit dieser ebiouitischcn Reihe läuft daun eine paulinische, in der gleichfalls ein
ähnlicher Stufengang vom reinen PauliuiSmus zur katholischen Vermittlung
nachgewiesen wird. Ist es nun zunächst die römische Kirche, welche in dieser
doppelten Entwickelungsreihe zum Abschluß gelangt, so kommt neben ihr noch
besonders die kleinasiatische Kirche in Betracht, welche im Allgemeinen demselben
Ziele zusteuert, al,er während das Princip der römischen Entwickelungen ein
echt römisches, nämlich ein politisch-kirchliches ist, mehr von einem speculativ-
theologischen Interesse bestimmt wird. Die NeinasiaNsche Kirche widerstrebte,
wie sich namentlich an den Pcchahstreitigt'eilen zeigt, dem römischen Princip


wissenschaftlichen Ernst ging bei ihm ein durchdringender Scharfsinn, eine Leich¬
tigkeit der Combinationsgabe und Darstellung Hand in Hand, welche es tief
bedauern lassen, das; er durch äußeren Druck diesen Studien entfremdet andern
Forschungen zugetrieben wurde, welche seine ungewöhnliche Arbeitskraft allzufrüh
aufrieben. Er zuerst faßte die bisherigen Einzeluntersuchungen als ein Ganzes
zusammen. Eine geschichtliche Darstellung, sagt er, findet nur in dem organi¬
schen Zusammenhang, in welchen sie das Einzelne mit dem Ganzen zu sehen
weiß, ihre genügende Bewährung. Das Einzelne an und für sich bleibt immer
schwankend und streitig: nur in seiner Verbindung zu einem größeren Ganzen,
dessen Glieder sich gegenseitig Heden und tragen, gewinnt es festeren Halt und
sicheren Boden. Schwegler ging aus von der Wahrnehmung, daß der Gegen
sah des Judenchristenthums und des .Paulinismus nicht blos das apostolische
Zeitalter im engeren Sinn, sondern den ganzen Zeitraum der werdenden katho-
lischen Kirche bis zum Schluß des zweiten Jahrhunderts beherrschte. Folglich
— dies ist die nächste Schlußfolgerung — sind die Schriften des neuen Testa¬
ments, welche die Verschiedenen aufeinanderfolgenden Stadien dieser Entwicke¬
lungsgeschichte bezeichnen, nicht in die drei Jahrzehnte des apostolischen Zeit¬
altern zusammenzuwerfen, sondern über die ganze nachapostolische Periode als
fortlaufende Kette von Documenten auszubreiten. Das ursprüngliche Christen¬
thum war wesentlich Jndenchristenthnm oder EdivnitiSmus, und die Geschichte
der ersten zwei Jahrhunderte ist nichts als die allmälige Entwickelung des
Ebionitismus zum Katholicismus. Das treibende Moment dieses Processes
aber ist der Pauliuiömus, unter dessen sollicitirender Einwirkung das Jnden¬
christenthnm i» einer Neilw von Entwickelungsstufen zum Katholicismus wurde,
und zwar so, daß die ersten Vermittclungsvorschläge vom Panlinismus, als
der illegitimen Partei, die sich erst mit Mühe Anerkennung zu erringen hatte,
ausgingen. Bon diesem obersten Gesichtspunkt aus werde» nun die kanonischen
und die außerkanonischen Schriften eingereiht in den Entwickelungsgang der
werdenden Kirche, nud zwar verläuft zunächst daS Jndenchristenthnm selbst in
einer dreifachen Abstufung vom reinen Jildenchristcnthnm durch verschiedene
Bermittelungöanbahnungcn zur Neutralität und zum Friedensschluß. Parallel
mit dieser ebiouitischcn Reihe läuft daun eine paulinische, in der gleichfalls ein
ähnlicher Stufengang vom reinen PauliuiSmus zur katholischen Vermittlung
nachgewiesen wird. Ist es nun zunächst die römische Kirche, welche in dieser
doppelten Entwickelungsreihe zum Abschluß gelangt, so kommt neben ihr noch
besonders die kleinasiatische Kirche in Betracht, welche im Allgemeinen demselben
Ziele zusteuert, al,er während das Princip der römischen Entwickelungen ein
echt römisches, nämlich ein politisch-kirchliches ist, mehr von einem speculativ-
theologischen Interesse bestimmt wird. Die NeinasiaNsche Kirche widerstrebte,
wie sich namentlich an den Pcchahstreitigt'eilen zeigt, dem römischen Princip


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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 23, 1864, I. Semester. II. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341799_188560/231>, abgerufen am 23.07.2024.