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Die Grenzboten. Jg. 23, 1864, I. Semester. II. Band.

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!^Jn unsern Tagen oder verfällt der größte Theil dieser Erinnerungen unauf¬
haltbaren Untergänge. Die alten Volkslieder bilden nur noch die kleinere Hälfte
dessen, was die Töchter des Dorfes i" den Spinnstuben oder beim Spazier¬
gange mit dem langen Strickstrumpf zu singen wissen, Text und Melodien wer¬
den durch das Eindringen moderner Schnörkel sehr unsicher. Noch schlimmer
steht es mit den Märchen, sie sind schon jetzt fast nur noch Eigenthum weniger
alter Leute, gar nicht mehr in jedem Dorfe zu finden, alljährlich räumt der Tod
unter diesen Kundigen auf, und man kann mit Sicherheit vorhersagen, daß in
wenig Jahren der große Märchen- und Sagcnschatz, der noch vor sechzig Jah¬
ren auf dem Lande lebte, ganz verloren sein wird. Dem jüngern Geschlecht
scheint nicht nur durch neueren Bildungsstoff, Kalendergeschichten und Local-
blätter, die Freude an den alten Zaubergeschichten vermindert, man möchte
auch glauben, daß jenes besondere Talent des Bewahrens und Erzählens, wel¬
ches alte Landleute besitzen, den Kindern dieses Jahrhunderts durchaus fehlt;
denn jeder, der sich einmal die Mühe gegeben hat, aus dem Munde des Vol¬
kes zu sammeln, erfährt, daß das Geschichten Wissen und Erzählen eine besondere
sehr interessante Begabung einzelner Männer und Frauen offenbart. Das Er¬
zählen früherer Generationen war eine poetische Arbeit, behagliches Mitempfinden
der erzählten Begebenheit, das Auge des Erzählers wird lebhaft, die Rede läuft
in einem erhöhten Tonfall, die Worte bleiben, bei wiederholtem Bericht des¬
selben Märchens zum größten Theil dieselben, aber auch neue Redewendungen
treten mit großer Sicherheit ohne Stocken auf, man erkennt, daß es nicht blos
ein Hersagen überlieferten Stoffes aus treuem Gedächtniß ist, sondern zu¬
gleich ein treues Nachschaffen eines innern Bildes ist, welches fest in der Seele
steht. Und es wird nicht schwer, vor einem guten Märchenerzähler zu be¬
greifen, wie sich große epische Gedichte von Geschlecht zu Geschlecht fortpflanzten,
in jenen Jahrhunderten, welche die Heldengesänge des Volkes noch nicht aus
Büchern lasen. Auch der Umfang dessen, was einzelne Erzählertalente be¬
wahren, ist auffallend, man kann zuweilen das Besitzthum eines Erzählers aus
viele hundert Geschichten schätzen, die er alle treu und fest auseinanderzu-
halten weiß.

Reichlicher haben sich die alten heidnischen Ueberlieferungen erhalten, welche



lateinisch, und von den Wort Girr (bayrisch Giere") nicht selten uso, Ecke, Zipfel, darf man
zweifeln, ob es in deutscher Verwandtschaft unterzubringen, oder von "in-nu abzuleiten ist. Diese Anlehnung an fremde Maße ist aber um so auffallender, da unsere Flurcinthei"
lung uralt ist, da sie über den größten Theil Deutschlands reicht, da diese Bezeichnungen sehr
fest im Volte wurzeln und keine andern gleichbedeutenden neben thuen stehe". Haben uns
gelehrte Mönche diese Namen hinterlassen? oder stammen sie aus den Verordnungen, durch
welche Karl der Große die Dreifelderwirthschaft nicht eingeführt, aber zu größerer Ordnung und
Gleichmäßigkeit geregelt haben mag?

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haltbaren Untergänge. Die alten Volkslieder bilden nur noch die kleinere Hälfte
dessen, was die Töchter des Dorfes i» den Spinnstuben oder beim Spazier¬
gange mit dem langen Strickstrumpf zu singen wissen, Text und Melodien wer¬
den durch das Eindringen moderner Schnörkel sehr unsicher. Noch schlimmer
steht es mit den Märchen, sie sind schon jetzt fast nur noch Eigenthum weniger
alter Leute, gar nicht mehr in jedem Dorfe zu finden, alljährlich räumt der Tod
unter diesen Kundigen auf, und man kann mit Sicherheit vorhersagen, daß in
wenig Jahren der große Märchen- und Sagcnschatz, der noch vor sechzig Jah¬
ren auf dem Lande lebte, ganz verloren sein wird. Dem jüngern Geschlecht
scheint nicht nur durch neueren Bildungsstoff, Kalendergeschichten und Local-
blätter, die Freude an den alten Zaubergeschichten vermindert, man möchte
auch glauben, daß jenes besondere Talent des Bewahrens und Erzählens, wel¬
ches alte Landleute besitzen, den Kindern dieses Jahrhunderts durchaus fehlt;
denn jeder, der sich einmal die Mühe gegeben hat, aus dem Munde des Vol¬
kes zu sammeln, erfährt, daß das Geschichten Wissen und Erzählen eine besondere
sehr interessante Begabung einzelner Männer und Frauen offenbart. Das Er¬
zählen früherer Generationen war eine poetische Arbeit, behagliches Mitempfinden
der erzählten Begebenheit, das Auge des Erzählers wird lebhaft, die Rede läuft
in einem erhöhten Tonfall, die Worte bleiben, bei wiederholtem Bericht des¬
selben Märchens zum größten Theil dieselben, aber auch neue Redewendungen
treten mit großer Sicherheit ohne Stocken auf, man erkennt, daß es nicht blos
ein Hersagen überlieferten Stoffes aus treuem Gedächtniß ist, sondern zu¬
gleich ein treues Nachschaffen eines innern Bildes ist, welches fest in der Seele
steht. Und es wird nicht schwer, vor einem guten Märchenerzähler zu be¬
greifen, wie sich große epische Gedichte von Geschlecht zu Geschlecht fortpflanzten,
in jenen Jahrhunderten, welche die Heldengesänge des Volkes noch nicht aus
Büchern lasen. Auch der Umfang dessen, was einzelne Erzählertalente be¬
wahren, ist auffallend, man kann zuweilen das Besitzthum eines Erzählers aus
viele hundert Geschichten schätzen, die er alle treu und fest auseinanderzu-
halten weiß.

Reichlicher haben sich die alten heidnischen Ueberlieferungen erhalten, welche



lateinisch, und von den Wort Girr (bayrisch Giere») nicht selten uso, Ecke, Zipfel, darf man
zweifeln, ob es in deutscher Verwandtschaft unterzubringen, oder von «in-nu abzuleiten ist. Diese Anlehnung an fremde Maße ist aber um so auffallender, da unsere Flurcinthei»
lung uralt ist, da sie über den größten Theil Deutschlands reicht, da diese Bezeichnungen sehr
fest im Volte wurzeln und keine andern gleichbedeutenden neben thuen stehe». Haben uns
gelehrte Mönche diese Namen hinterlassen? oder stammen sie aus den Verordnungen, durch
welche Karl der Große die Dreifelderwirthschaft nicht eingeführt, aber zu größerer Ordnung und
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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 23, 1864, I. Semester. II. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341799_188560/224>, abgerufen am 23.07.2024.