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Die Grenzboten. Jg. 23, 1864, I. Semester. II. Band.

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Grenzen erhielten sich auch in dem protestantischen Thüringen bis in das vorige
Jahrhundert. In einer Handschrift der Kirche von Seebergen z. B. ist die
Schilderung solcher Grenzfahrt erhalten.

In der Heidenzeit war es vornehmlich die weibliche Göttin, welche mütter¬
lich bei ihrem Volle zum Renten sah, Lob" und Strafe vertheilte. Am feier¬
lichsten war ihr Zug in den heiligen zwölf Nächten des Winters (vom 2S. De¬
cember bis S. Januar), der größten Fcstzeivdes deutschen Heidenthums. Dann
schritt die Göttin unsichtbar durch die Dörfer, betrat die Häuser, prüfte die
Ordnung der Hausfrauen, die Zucht der Kinder, den Fleiß der Spinnerin, sie
berührte die Fruchtbäume des Gartens, das Vieh im Stalle. Dann mußte
das Haus festlich gerüstet sein, der Flachs am Rocken abgesponnen, sonst ver¬
wirrte die Göttin der säumigen Spinnerin den Rocken. Dann wurden die Obst¬
bäume geschüttelt, damit sie aus dem Winterschlaf erwachten, wenn die Göttin
kam, sie trugen sonst im Sommer keine Frucht. Noch am Ende des vorigen
Jahrhunderts war in Buttstedt der Gebrauch, alle Obstbäume vor dem Dreikönigs¬
tage zu schütteln und dabei zu rufen: "Schlafe nicht, Bäumchen, Frau Holle
kommt." Aber auch im Sommer zog die Göttin durch Feld und Flur ihres
Volkes, und die Landleute erkennen noch heut den Strich, den Frau Holle durch
das Getreidefeld gezogen ist, denn da stehen die Halme höher und lustiger.

Wie einig und hold die Göttin als Familienmutter des Volkes aufgefaßt
wurde, davon geben eine große Anzahl thüringische Sagen Kunde.

Und noch zahlreicher sind die in Sagen erhaltenen Nachrichten von den
kleinen Geistern, welche um Heerd und Stall, in Flur und Wald, im Wasser
und auf Bergen wohnten. Fast zahllos sind die Geschichten von Zwergen und
Riesen, von Feen und Elben, von Hausgeistern, Kobolden. -- welche in
Thüringen die Besonderheit haben, in feuerrother Tracht zu erscheinen -- und
Heimchen, von Nixen, Gespenstern u. s. w.

Und diese Ueberreste alten Volksglaubens dienen nicht nur. das Verständniß
der Mythen und des religiösen Lebens unserer Urahnen zu öffnen, sie stützen auch
nach manchen andern Richtungen unser geschichtliches Wissen. Zuweilen auf
einer Seite, wo man solche Hilfe nicht erwartet.

Und deshalb sei hier als Beleg für das Gesagte an ein kleines historisches
Problem Thüringens erinnert, welches in den letzten Jahren vielfach besprochen
wurde, und doch eine befriedigende Lösung noch nicht gefunden hat, an den
Rennstieg des Waldes. An ihm hängt etwas Räthselhaftes. und es wäre
immerhin möglich, daß eingehende Untersuchungen zu Resultaten kämen, welche
ein allgemeines Interesse haben.

Der Rennstieg, ein Bergpfad von 43 Stunden Länge, welcher auf dem
Kauri des thüringer Waldes von der Werra bis zur Saale, vom sagenreichen
Hörselberg bis zum Kulm bei Blankcnstcin führt, gehört zu den ehrwürdigen


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Grenzen erhielten sich auch in dem protestantischen Thüringen bis in das vorige
Jahrhundert. In einer Handschrift der Kirche von Seebergen z. B. ist die
Schilderung solcher Grenzfahrt erhalten.

In der Heidenzeit war es vornehmlich die weibliche Göttin, welche mütter¬
lich bei ihrem Volle zum Renten sah, Lob« und Strafe vertheilte. Am feier¬
lichsten war ihr Zug in den heiligen zwölf Nächten des Winters (vom 2S. De¬
cember bis S. Januar), der größten Fcstzeivdes deutschen Heidenthums. Dann
schritt die Göttin unsichtbar durch die Dörfer, betrat die Häuser, prüfte die
Ordnung der Hausfrauen, die Zucht der Kinder, den Fleiß der Spinnerin, sie
berührte die Fruchtbäume des Gartens, das Vieh im Stalle. Dann mußte
das Haus festlich gerüstet sein, der Flachs am Rocken abgesponnen, sonst ver¬
wirrte die Göttin der säumigen Spinnerin den Rocken. Dann wurden die Obst¬
bäume geschüttelt, damit sie aus dem Winterschlaf erwachten, wenn die Göttin
kam, sie trugen sonst im Sommer keine Frucht. Noch am Ende des vorigen
Jahrhunderts war in Buttstedt der Gebrauch, alle Obstbäume vor dem Dreikönigs¬
tage zu schütteln und dabei zu rufen: „Schlafe nicht, Bäumchen, Frau Holle
kommt." Aber auch im Sommer zog die Göttin durch Feld und Flur ihres
Volkes, und die Landleute erkennen noch heut den Strich, den Frau Holle durch
das Getreidefeld gezogen ist, denn da stehen die Halme höher und lustiger.

Wie einig und hold die Göttin als Familienmutter des Volkes aufgefaßt
wurde, davon geben eine große Anzahl thüringische Sagen Kunde.

Und noch zahlreicher sind die in Sagen erhaltenen Nachrichten von den
kleinen Geistern, welche um Heerd und Stall, in Flur und Wald, im Wasser
und auf Bergen wohnten. Fast zahllos sind die Geschichten von Zwergen und
Riesen, von Feen und Elben, von Hausgeistern, Kobolden. — welche in
Thüringen die Besonderheit haben, in feuerrother Tracht zu erscheinen — und
Heimchen, von Nixen, Gespenstern u. s. w.

Und diese Ueberreste alten Volksglaubens dienen nicht nur. das Verständniß
der Mythen und des religiösen Lebens unserer Urahnen zu öffnen, sie stützen auch
nach manchen andern Richtungen unser geschichtliches Wissen. Zuweilen auf
einer Seite, wo man solche Hilfe nicht erwartet.

Und deshalb sei hier als Beleg für das Gesagte an ein kleines historisches
Problem Thüringens erinnert, welches in den letzten Jahren vielfach besprochen
wurde, und doch eine befriedigende Lösung noch nicht gefunden hat, an den
Rennstieg des Waldes. An ihm hängt etwas Räthselhaftes. und es wäre
immerhin möglich, daß eingehende Untersuchungen zu Resultaten kämen, welche
ein allgemeines Interesse haben.

Der Rennstieg, ein Bergpfad von 43 Stunden Länge, welcher auf dem
Kauri des thüringer Waldes von der Werra bis zur Saale, vom sagenreichen
Hörselberg bis zum Kulm bei Blankcnstcin führt, gehört zu den ehrwürdigen


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[0219] Grenzen erhielten sich auch in dem protestantischen Thüringen bis in das vorige Jahrhundert. In einer Handschrift der Kirche von Seebergen z. B. ist die Schilderung solcher Grenzfahrt erhalten. In der Heidenzeit war es vornehmlich die weibliche Göttin, welche mütter¬ lich bei ihrem Volle zum Renten sah, Lob« und Strafe vertheilte. Am feier¬ lichsten war ihr Zug in den heiligen zwölf Nächten des Winters (vom 2S. De¬ cember bis S. Januar), der größten Fcstzeivdes deutschen Heidenthums. Dann schritt die Göttin unsichtbar durch die Dörfer, betrat die Häuser, prüfte die Ordnung der Hausfrauen, die Zucht der Kinder, den Fleiß der Spinnerin, sie berührte die Fruchtbäume des Gartens, das Vieh im Stalle. Dann mußte das Haus festlich gerüstet sein, der Flachs am Rocken abgesponnen, sonst ver¬ wirrte die Göttin der säumigen Spinnerin den Rocken. Dann wurden die Obst¬ bäume geschüttelt, damit sie aus dem Winterschlaf erwachten, wenn die Göttin kam, sie trugen sonst im Sommer keine Frucht. Noch am Ende des vorigen Jahrhunderts war in Buttstedt der Gebrauch, alle Obstbäume vor dem Dreikönigs¬ tage zu schütteln und dabei zu rufen: „Schlafe nicht, Bäumchen, Frau Holle kommt." Aber auch im Sommer zog die Göttin durch Feld und Flur ihres Volkes, und die Landleute erkennen noch heut den Strich, den Frau Holle durch das Getreidefeld gezogen ist, denn da stehen die Halme höher und lustiger. Wie einig und hold die Göttin als Familienmutter des Volkes aufgefaßt wurde, davon geben eine große Anzahl thüringische Sagen Kunde. Und noch zahlreicher sind die in Sagen erhaltenen Nachrichten von den kleinen Geistern, welche um Heerd und Stall, in Flur und Wald, im Wasser und auf Bergen wohnten. Fast zahllos sind die Geschichten von Zwergen und Riesen, von Feen und Elben, von Hausgeistern, Kobolden. — welche in Thüringen die Besonderheit haben, in feuerrother Tracht zu erscheinen — und Heimchen, von Nixen, Gespenstern u. s. w. Und diese Ueberreste alten Volksglaubens dienen nicht nur. das Verständniß der Mythen und des religiösen Lebens unserer Urahnen zu öffnen, sie stützen auch nach manchen andern Richtungen unser geschichtliches Wissen. Zuweilen auf einer Seite, wo man solche Hilfe nicht erwartet. Und deshalb sei hier als Beleg für das Gesagte an ein kleines historisches Problem Thüringens erinnert, welches in den letzten Jahren vielfach besprochen wurde, und doch eine befriedigende Lösung noch nicht gefunden hat, an den Rennstieg des Waldes. An ihm hängt etwas Räthselhaftes. und es wäre immerhin möglich, daß eingehende Untersuchungen zu Resultaten kämen, welche ein allgemeines Interesse haben. Der Rennstieg, ein Bergpfad von 43 Stunden Länge, welcher auf dem Kauri des thüringer Waldes von der Werra bis zur Saale, vom sagenreichen Hörselberg bis zum Kulm bei Blankcnstcin führt, gehört zu den ehrwürdigen 27*

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 23, 1864, I. Semester. II. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341799_188560/219>, abgerufen am 23.07.2024.