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Die Grenzboten. Jg. 23, 1864, I. Semester. II. Band.

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Ortsbeschreibungen, Dorfacten. Wer den Dialekt einer Landschaft genau dar¬
stellen will, wird auf die gestimmte Ältere Literatur der Landschaft Rücksicht
nehmen müssen. Alte Localsagen sind häufig in Annalen und Chroniken als ge¬
schichtliche Ereignisse berichtet, verklungene Volkslieder werden durch Drucke des
. 15.--18. Jahrhunderts bewahrt, ureigene Gebräuche, Sitten, Aberglaube finden
sich in gedruckten und handschriftlichen Ortsbeschreibungen; für die alten Namen
der Orte und Familien sind die Urkunden des Mittelalters ein reichlich fließen¬
der Quell. Alles, was auf solchem Wege uns geblieben, ist neben das noch
Lebendige zu stellen.

Unter den sagenhaften Ueberlieferungen thüringischer Dörfer haben einige
in neuer Zeit große Verbreitung und sowohl wissenschaftliche als dichterische
Verwerthung gefunden, welche eine verdunkelte Kunde von den alten Heiden-
göttcrn enthalten, denen einst auf dem Kiffhciuser, dem Hörselberg, dem Insel-
berg und Donnershaug die Opferfeuer flammten.

Die Grundlage alles Glaubens war den heidnischen Germanen, wie jedem
jungen Volk, das tiefe Abhängigkeitsgefühl von ungeheuren Gewalten, welche
den Naiurlauf der Erde und des Himmelsgewölbes, aber auch Leben und Schicksal
der Menschen beherrschen. Dies Uebermenschliche, Fremde, welches sich bald
furchtbar, bald segenspendend äußert, vermögen Phantasie und Gemüth eines
jungen Volkes aber nur dadurch zu fassen, daß sie alles Jmponirende und Un¬
verständliche in der Natur, ja in den Ereignissen des eigenen Lebens zu menschen¬
ähnlichen Persönlichkeiten umbilden. Der Blitz wird die geschleuderte Waffe
eines Gottes, dessen Streitwagen donnernd über das Himmelsgewölbe rollt,
die ziehenden Wolken verwandeln sich in eine Heerde Rinder oder Schafe, welche
die nährende Himmelsmilch auf die Erde rinnen lassen. Der Gott, welcher
das Schicksal der Menschen lenkt, wird aufgefaßt als der oberste Häuptling und
Ahnherr des Stammes, die allnährcnde Erde selbst wird gedeutet als die große
Mutter alles Lebendigen. Jede dieser Göttcrpersönlichkciten wird als eine
menschenähnliche Gestalt begriffen, jede erhält eine Geschichte, wie der Mensch,
alle treten zu einander in menschliche Beziehungen, freundliche und feind¬
liche. Unter den verdämmerten und. durch den Widerwillen der christlichen
Priester unterdrückten Namen und Gestalten der deutschen Götter sind vor
andern -- auch in Thüringen -- zwei für uns erkennbar. Der höchste, ge¬
waltige Herr der Menschen und des irdischen Lebens, Wuotan, und die
allsorgende Erdmutter, deren Wesen und Cultur schon Tacitus so eingehend
schildert. Name der großen Göttin war bei den Scandinaviern Frigga, auch
den deutschen Stämmen ist dieser Name nicht fremd, und er findet sich, nach
den Lautgesehen umgewandelt, auch hier und da in thüringischen Sagen
als Frau Frecke. Daneben aber führte die Erdmutter der einzelnen deutschen
Völtergruvpen verschiedene Namen, welche zum Theil Eigenschaften derselben


Ortsbeschreibungen, Dorfacten. Wer den Dialekt einer Landschaft genau dar¬
stellen will, wird auf die gestimmte Ältere Literatur der Landschaft Rücksicht
nehmen müssen. Alte Localsagen sind häufig in Annalen und Chroniken als ge¬
schichtliche Ereignisse berichtet, verklungene Volkslieder werden durch Drucke des
. 15.—18. Jahrhunderts bewahrt, ureigene Gebräuche, Sitten, Aberglaube finden
sich in gedruckten und handschriftlichen Ortsbeschreibungen; für die alten Namen
der Orte und Familien sind die Urkunden des Mittelalters ein reichlich fließen¬
der Quell. Alles, was auf solchem Wege uns geblieben, ist neben das noch
Lebendige zu stellen.

Unter den sagenhaften Ueberlieferungen thüringischer Dörfer haben einige
in neuer Zeit große Verbreitung und sowohl wissenschaftliche als dichterische
Verwerthung gefunden, welche eine verdunkelte Kunde von den alten Heiden-
göttcrn enthalten, denen einst auf dem Kiffhciuser, dem Hörselberg, dem Insel-
berg und Donnershaug die Opferfeuer flammten.

Die Grundlage alles Glaubens war den heidnischen Germanen, wie jedem
jungen Volk, das tiefe Abhängigkeitsgefühl von ungeheuren Gewalten, welche
den Naiurlauf der Erde und des Himmelsgewölbes, aber auch Leben und Schicksal
der Menschen beherrschen. Dies Uebermenschliche, Fremde, welches sich bald
furchtbar, bald segenspendend äußert, vermögen Phantasie und Gemüth eines
jungen Volkes aber nur dadurch zu fassen, daß sie alles Jmponirende und Un¬
verständliche in der Natur, ja in den Ereignissen des eigenen Lebens zu menschen¬
ähnlichen Persönlichkeiten umbilden. Der Blitz wird die geschleuderte Waffe
eines Gottes, dessen Streitwagen donnernd über das Himmelsgewölbe rollt,
die ziehenden Wolken verwandeln sich in eine Heerde Rinder oder Schafe, welche
die nährende Himmelsmilch auf die Erde rinnen lassen. Der Gott, welcher
das Schicksal der Menschen lenkt, wird aufgefaßt als der oberste Häuptling und
Ahnherr des Stammes, die allnährcnde Erde selbst wird gedeutet als die große
Mutter alles Lebendigen. Jede dieser Göttcrpersönlichkciten wird als eine
menschenähnliche Gestalt begriffen, jede erhält eine Geschichte, wie der Mensch,
alle treten zu einander in menschliche Beziehungen, freundliche und feind¬
liche. Unter den verdämmerten und. durch den Widerwillen der christlichen
Priester unterdrückten Namen und Gestalten der deutschen Götter sind vor
andern — auch in Thüringen — zwei für uns erkennbar. Der höchste, ge¬
waltige Herr der Menschen und des irdischen Lebens, Wuotan, und die
allsorgende Erdmutter, deren Wesen und Cultur schon Tacitus so eingehend
schildert. Name der großen Göttin war bei den Scandinaviern Frigga, auch
den deutschen Stämmen ist dieser Name nicht fremd, und er findet sich, nach
den Lautgesehen umgewandelt, auch hier und da in thüringischen Sagen
als Frau Frecke. Daneben aber führte die Erdmutter der einzelnen deutschen
Völtergruvpen verschiedene Namen, welche zum Theil Eigenschaften derselben


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[0216] Ortsbeschreibungen, Dorfacten. Wer den Dialekt einer Landschaft genau dar¬ stellen will, wird auf die gestimmte Ältere Literatur der Landschaft Rücksicht nehmen müssen. Alte Localsagen sind häufig in Annalen und Chroniken als ge¬ schichtliche Ereignisse berichtet, verklungene Volkslieder werden durch Drucke des . 15.—18. Jahrhunderts bewahrt, ureigene Gebräuche, Sitten, Aberglaube finden sich in gedruckten und handschriftlichen Ortsbeschreibungen; für die alten Namen der Orte und Familien sind die Urkunden des Mittelalters ein reichlich fließen¬ der Quell. Alles, was auf solchem Wege uns geblieben, ist neben das noch Lebendige zu stellen. Unter den sagenhaften Ueberlieferungen thüringischer Dörfer haben einige in neuer Zeit große Verbreitung und sowohl wissenschaftliche als dichterische Verwerthung gefunden, welche eine verdunkelte Kunde von den alten Heiden- göttcrn enthalten, denen einst auf dem Kiffhciuser, dem Hörselberg, dem Insel- berg und Donnershaug die Opferfeuer flammten. Die Grundlage alles Glaubens war den heidnischen Germanen, wie jedem jungen Volk, das tiefe Abhängigkeitsgefühl von ungeheuren Gewalten, welche den Naiurlauf der Erde und des Himmelsgewölbes, aber auch Leben und Schicksal der Menschen beherrschen. Dies Uebermenschliche, Fremde, welches sich bald furchtbar, bald segenspendend äußert, vermögen Phantasie und Gemüth eines jungen Volkes aber nur dadurch zu fassen, daß sie alles Jmponirende und Un¬ verständliche in der Natur, ja in den Ereignissen des eigenen Lebens zu menschen¬ ähnlichen Persönlichkeiten umbilden. Der Blitz wird die geschleuderte Waffe eines Gottes, dessen Streitwagen donnernd über das Himmelsgewölbe rollt, die ziehenden Wolken verwandeln sich in eine Heerde Rinder oder Schafe, welche die nährende Himmelsmilch auf die Erde rinnen lassen. Der Gott, welcher das Schicksal der Menschen lenkt, wird aufgefaßt als der oberste Häuptling und Ahnherr des Stammes, die allnährcnde Erde selbst wird gedeutet als die große Mutter alles Lebendigen. Jede dieser Göttcrpersönlichkciten wird als eine menschenähnliche Gestalt begriffen, jede erhält eine Geschichte, wie der Mensch, alle treten zu einander in menschliche Beziehungen, freundliche und feind¬ liche. Unter den verdämmerten und. durch den Widerwillen der christlichen Priester unterdrückten Namen und Gestalten der deutschen Götter sind vor andern — auch in Thüringen — zwei für uns erkennbar. Der höchste, ge¬ waltige Herr der Menschen und des irdischen Lebens, Wuotan, und die allsorgende Erdmutter, deren Wesen und Cultur schon Tacitus so eingehend schildert. Name der großen Göttin war bei den Scandinaviern Frigga, auch den deutschen Stämmen ist dieser Name nicht fremd, und er findet sich, nach den Lautgesehen umgewandelt, auch hier und da in thüringischen Sagen als Frau Frecke. Daneben aber führte die Erdmutter der einzelnen deutschen Völtergruvpen verschiedene Namen, welche zum Theil Eigenschaften derselben

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 23, 1864, I. Semester. II. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341799_188560/216>, abgerufen am 23.07.2024.